Zu viel Bürokratie im Krankenhaus – so lautet der Vorwurf, den die Deutsche Krankenhausgesellschaft erhebt. Wir fragten bei der Stelle nach, die die Krankenhäuser prüft. Dr. med. Andreas Krokotsch antwortete uns. Er ist Leitender Arzt des Medizinischen Dienstes (MD) Nord und ein Experte für Strukturprüfungen. Auf Bundesebene arbeitete er an der OPS-Strukturprüfungsrichtlinie und dem 90-seitigen Begutachtungsleitfaden mit. Zu den Hintergründen und Zusammenhängen:
Herr Dr. Krokotsch, die Deutsche Krankenhausgesellschaft behauptet, dass vollzeitbeschäftigte Ärztinnen und Ärzte täglich drei Stunden mit Dokumentationsaufgaben und Nachweispflichten verbringen. In dieser Zeit würden sie der patientennahen Versorgung fehlen. Was sagen Sie dazu?
Eine angemessene Dokumentation dient der Patientensicherheit sowie der Behandlungsqualität und ist ein untrennbarer Bestandteil der Behandlung selbst. Während einer Krankenhausbehandlung wird eine Patientin oder ein Patient in der Regel von einer Vielzahl beteiligter Fachärztinnen bzw. Fachärzten sowie weiterer Therapeutinnen und Therapeuten sowie Pflegefachkräften behandelt bzw. gepflegt. Damit z. B. die behandelnde Stationsärztin weiß, welche Befunde die anderen Fachkolleginnen und -kollegen im Rahmen ihrer Untersuchungen erhoben haben, müssen diese selbstverständlich ihre Untersuchungsergebnisse entsprechend dokumentieren. Alle Fäden laufen bei der Stationsärztin zusammen. Wenn diese selbst z. B. nachts gerade nicht in der Klinik ist und es bei der Patientin bzw. dem Patienten zu einem akuten Notfall kommt, muss der diensthabende Arzt sich unverzüglich ein Bild über die vorliegenden Befunde, Diagnosen sowie die Therapiestrategie machen können, damit die richtigen Notfallmaßnahmen eingeleitet werden und keine wichtigen Erkenntnisse unberücksichtigt bleiben. Gleiches gilt natürlich auch für den Fall einer Urlaubs- oder Krankheitsvertretung der behandelnden Ärztin.
Der Umfang der erforderlichen Dokumentation hängt ganz allgemein von der Verantwortung der Berufsgruppe sowie der Komplexität der Erkrankung ab: Ärztinnen und Ärzte tragen sehr viel Verantwortung, und je schwerwiegender die Erkrankung ist, umso umfassender ist auch die notwendige Dokumentation. Eine angemessene Dokumentation schützt die Behandler auch selbst vor etwaigen Behandlungsfehlervorwürfen.
Es gibt diverse Möglichkeiten, die Dokumentation effizienter zu gestalten. Diese Möglichkeiten haben die Krankenhäuser selber in der Hand. So ist eine rein digitale Dokumentation wesentlich effizienter als eine Dokumentation in Papierform. Befunde aller Behandler bzw. Untersucher können dann effizient per Knopfdruck übernommen werden. Dies reduziert Dokumentationszeit. Ganz nebenbei dient es auch der Patientensicherheit, wenn statt unleserlicher Handschriften ausschließlich elektronische Formate genutzt werden. Die Möglichkeiten der papierlosen digitalen Dokumentation sind in den Kliniken längst noch nicht ausgeschöpft. Dazu gehört ebenfalls, dass digitale Schnittstellen der Krankenhäuser noch optimiert werden können. Auch die digitale Schnittstelle zwischen den Krankenhäusern und dem Medizinischen Dienst z. B. bei Struktur- und Qualitätsprüfungen ist ausbaufähig. Als Medizinischer Dienst Nord sind wir hier in einer Vorreiterrolle und bieten den Krankenhäusern ein sehr komfortables webbasiertes Antragsportal an, welches den Kliniken die Antragstellung für OPS-Strukturprüfungen erheblich erleichtert.
Auch der Einsatz von KI, das sei schließlich noch erwähnt, wird perspektivisch helfen, die erforderliche Dokumentation effizienter zu gestalten. Die Nutzung von KI im Gesundheitswesen birgt aber auch Risiken, die mit den sich bietenden Chancen sorgsam abzuwägen sind. Hierbei handelt es sich um ein eigenes großes Thema, das uns in Zukunft noch viel beschäftigen wird.
Warum musste der MD einen Begutachtungsleitfaden erstellen und worin lagen die Herausforderungen bei dessen Umsetzung?
Für den Medizinischen Dienst ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Voraussetzungen, die wir in Krankenhäusern vorfinden, in der gesamten Republik gleich bewertet werden. Es wäre nicht vermittelbar, wenn Krankenhäuser in Schleswig-Holstein, Hamburg oder Bayern ein Strukturmerkmal in gleicher Weise umsetzen, hierfür aber unterschiedliche Prüfergebnisse von uns erhalten.
Eine Reihe von OPS-Strukturmerkmalen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bzw. eine Reihe von Qualitätsanforderungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) sind nicht eindeutig, sondern auslegungsbedürftig. Es besteht das Risiko, dass unterschiedliche Gutachterteams des Medizinischen Dienstes dasselbe Strukturmerkmal unterschiedlich auslegen. Zudem können uneindeutige Strukturmerkmale zu Konflikten mit Krankenhäusern und Krankenkassen führen. So werden uneindeutige Strukturmerkmale mitunter, und für mich nachvollziehbar, von einem Krankenhaus zu dessen Gunsten gedeutet. Krankenkassen hingegen verstehen, für mich ebenso nachvollziehbar, mitunter Strukturmerkmale wiederum anders.
Vor diesem Hintergrund haben die Medizinischen Dienste in einem hochaufwendigen Prozess unter Beteiligung aller Dienste sowohl für die OPS-Strukturprüfungen als auch für die Qualitätsprüfungen nach Richtlinien des GBA jeweils einen Begutachtungsleitfaden erstellt. In diesen Begutachtungsleitfäden werden auslegungsbedürftige Strukturmerkmale medizinisch-sinnvoll ausgelegt. Das heißt, dass der Medizinische Dienst unklare Strukturmerkmale weder „pro“ noch „contra“ Krankenhaus, sondern bestmöglich medizinisch-sachgerecht auslegt. Die Begutachtungsleitfäden sind für alle Gutachterinnen und Gutachter des Medizinischen Dienstes verbindlich, so dass wir eine bundesweit einheitliche Begutachtung sicherstellen.
Eine Qualitätsanforderung des GBA bei Bauchaortenaneurysma-Operationen (lebensgefährliche Aussackung der Hauptschlagader) lautet zum Beispiel, dass ein OP-Saal „jederzeit und sofort für die Versorgung einsatzbereit sein muss“. Es stellt sich die Frage, ob mit der Einsatzbereitschaft auch entsprechendes OP-Personal und, wenn ja, welches gemeint ist? Dies wird von Krankenhäusern durchaus unterschiedlich bewertet. Nach Auffassung der Medizinischen Dienste ist ein OP-Saal nur dann einsatzbereit, wenn auch Operateure, Anästhesisten und Assistenzpersonal verfügbar sind.
Ein weiteres Beispiel: In einem OPS-Strukturmerkmal des BfArM zur neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation wird gefordert, dass „neurologischer oder neurochirurgischer Sachverstand kontinuierlich eingebunden sein muss“. Sind damit Fachärztinnen/Fachärzte gemeint oder reichen Ärztinnen bzw. Ärzte in Weiterbildung? Meint eine „kontinuierliche“ Einbindung einen Schichtdienst, Bereitschaftsdienst oder Rufdienst? Nach unserer medizinischen Auffassung können nur Fachärzte gemeint sein, für die jedoch ein Rufdienst ausreichend wäre.
Die Begutachtungsleitfäden sind transparent auf der Webseite des Medizinischen Dienstes Bund einsehbar. Jedes Krankenhaus kann daher bereits vor einer Prüfung sehen, wie der Medizinische Dienst bundeseinheitlich unklare Strukturmerkmale auslegt und sich somit entsprechend vorbereiten, damit es keine Überraschungen gibt.
Ein Begutachtungsleitfaden kann nur eine Zwischenlösung sein. Die Normgeber BfArM und GBA selbst sind aufgerufen, uneindeutige Strukturmerkmale klarzustellen.
Aus meiner Sicht wird unterschätzt, dass eindeutige Strukturmerkmale und eindeutige Verfahrensregelungen das probateste Mittel sind, um unnötige Konflikte und somit „Bürokratie“ zu vermeiden. Klare Vorgaben würden auf allen Seiten zu sehr viel Zeitersparnis führen und erhebliche Anwaltskosten einsparen.
Der Medizinische Dienst sollte unbedingt an der Konkretisierung und Weiterentwicklung der Strukturmerkmale, Qualitätsanforderungen und Qualitätskriterien von Leistungsgruppen beteiligt werden. Der Medizinischen Dienst will und kann kein Normgeber werden. Aufgrund unserer Begutachtungserfahrung können wir jedoch einschätzen, inwieweit Strukturmerkmale eindeutig oder auslegungsbedürftig sind und ob diese überhaupt mit realistischem Aufwand prüfbar sind.
Bringt die Krankenhausreform auch eine Entbürokratisierung mit sich? Gibt es dafür Beispiele?
Ja! Dem aktuellen Stand der geplanten Krankenhausreform ist zu entnehmen, dass zukünftig Prüfungen des Medizinischen Dienstes aufeinander abgestimmt erfolgen sollen und Erkenntnisse aus bereits abgeschlossenen Qualitätskontrollen nach GBA-Richtlinien, aus OPS-Strukturprüfungen und Leistungsgruppenprüfungen jeweils wechselseitig verwendet werden dürfen.
Erkenntnisse aus OPS-Strukturprüfungen der Vorjahre können nun auch für eine OPS-Strukturprüfung im aktuellen Jahr herangezogen werden. Und, noch besser: Sie können sogar für eine aktuelle Leistungsgruppenprüfung oder Qualitätskontrolle einer GBA-Richtlinie herangezogen werden. Beispielsweise ein Kernspingerät an einem Standort muss somit nicht mehr jedes Jahr neu geprüft werden und Kardiologen, die im Rahmen einer OPS-Strukturprüfung bereits bestätigt werden konnten, können ohne erneute Prüfung einer Leistungsgruppenprüfung zugrunde gelegt werden.
Dies wird dazu führen, dass zukünftig pro Prüfung weniger Unterlagen angefordert werden müssen und auch weniger geprüft werden muss. Das wird zu einer großen Entlastung der Krankenhäuser und des Medizinischen Dienstes führen. Bislang durfte der Medizinische Dienst Erkenntnisse aus anderen Prüfungen nicht heranziehen, da diese in unterschiedlichen Rechtskreisen verortet waren. Das wird nun mit dem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) besser, wenn es denn kommt…
Was wünschen Sie sich für die zukünftige Zusammenarbeit von Krankenhäusern, Krankenkassen und MD? Gibt es vielleicht bereits konkrete Initiativen?
Wir verfolgen alle das gleiche Ziel: eine qualitativ hochwertige und effiziente Krankenhausversorgung. Es besteht ferner ein Konsens, dass Veränderungen der bisherigen Versorgungslandschaft erforderlich sind, damit auch zukünftig alle gesetzlich Versicherten jede notwendige Behandlung in der gebotenen Qualität erhalten können und wir den Herausforderungen des demographischen Wandels gerecht werden. Wir können auch nicht ausblenden, dass unser Gesundheitssystem auch zukünftig noch finanzierbar sein muss.
Mir sind gegenseitiges Verständnis und eine Kompromissbereitschaft im möglichen Rahmen wichtig. Hierfür ist es unerlässlich, stetig miteinander zu sprechen. Als Medizinischer Dienst gehen wir insbesondere seit Einführung der OPS-Strukturprüfungen sowie der Qualitätsprüfrichtlinie des GBA mehr in den Dialog mit den Krankenhäusern und Krankenkassen und haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht. So bieten wir z. B. regelmäßige Informationsveranstaltungen zu OPS-Strukturprüfungen und neuen Prüfungen von GBA-Richtlinien an, die immer sehr gut besucht sind. Es ist uns ein Anliegen, VOR den Prüfungen auf Besonderheiten hinzuweisen, um Missverständnisse in der Prüfung selbst zu vermeiden.
Die Gesprächskultur, die ich in Schleswig-Holstein kennengelernt habe und sehr schätze, ist eine optimale Grundlage, damit die Herausforderungen erfolgreich bewältigt werden können.