Christian Dirschauer ist parlamentarischer Geschäftsführer der Landtagsfraktion des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) im Schleswig-Holsteinischen Landtag. Wir haben ihn als Vertreter der dänischen Minderheit in Deutschland u. a. danach gefragt, was wir vom dänischen Gesundheitssystem lernen könnten.
Ein großes Vorhaben der Ampel-Koalition in Berlin ist das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsversorgung in der Kommune (GVSG). Welche Punkte halten Sie für wichtig und welche würden Sie am liebsten rausstreichen lassen und warum?
Ich denke spätestens mit dem Bruch der Ampel-Koalition ist das Chaos um diese Gesetzesinitiative perfekt. Denn auch wenn mittlerweile unklar ist, ob und wenn ja wann das GVSG Inkrafttreten wird, waren hier ursprünglich einige gute Maßnahmen enthalten. Die Idee der Gesundheitskioske ist hier ebenso zu nennen, wie die geplanten Erleichterungen bei der Gründung kommunaler Versorgungszentren. Auch der hier enthaltene neue Ansatz zur Sicherung der Hausärztlichen Versorgung durch eine Erhöhung der Medizinstudienplätze über einen Förderfonds klingt aus meiner Sicht sinnvoll. Noch dazu wird hiermit ein Problem adressiert, das uns in Schleswig-Holstein nicht nur sehr lange, sondern vor allem auch sehr akut beschäftigt.
Diese Punkte wären gerade für unser Flächenland mit weiten Versorgungswegen enorm wichtig. Denn sie hätten uns dem Ziel einer regional vernetzten, und damit eben auch wohnort- und bürgernahen Versorgung wieder ein Stück näherbringen können. Doch leider wurden diese Punkte im Gesetzgebungsverfahren gestrichen, so dass man beim aktuellen Entwurf wohl eher von einer Rumpfversion sprechen kann, die weniger dem Ziel handlungsfähiger Kommunen, sondern eher dem Ziel der Kostenbegrenzung dient. Statt darin also noch zusätzlich zu streichen, wäre es mir erst einmal ein wichtiges Anliegen, dass die genannten Punkte wieder aufgegriffen werden.
Mit Blick auf das mit dem GVSG verbundene Vorhaben, die Budgetierung der hausärztlichen Leistungen aufzuheben, steht für mich als Landespolitiker bei aller Kontroverse die Sicherung der Versorgung an erster Stelle. Soll heißen, dass dieser Schritt aus Sicht des SSW im Zweifel auf einem alternativen Weg erfolgen muss. Denn auch wenn die Situation natürlich nicht überall im Land identisch ist, arbeiten in Schleswig-Holstein viel zu viele Hausarztpraxen am finanziellen Limit. Gerade als Flächenland und vor dem Hintergrund der Altersstruktur in diesem Bereich können wir nicht riskieren, noch mehr Hausärzte aus finanziellen Gründen für die Versorgung zu verlieren.
Ein letzter Punkt, der mir enorm wichtig ist und den wir aktuell auch mit einem Plenarantrag bewegen, ist die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Hier war mit dem GVSG bekanntlich ein verbesserter Zugang zur Versorgung durch eine separate Bedarfsplanung angedacht. Aus Sicht des SSW muss hier dringend gehandelt werden! Der Bedarf ist nicht nur durch die Pandemie enorm gestiegen. Und die Wartezeiten auf einen Therapieplatz, mit denen Kinder und Jugendliche buchstäblich zu kämpfen haben, sind viel zu lang. Wir können es uns als Gesellschaft schlicht nicht leisten, die Betroffenen so lange unversorgt zu lassen und müssen daher dringend bedarfsdeckende Strukturen entwickeln.
Anfang des Jahres hat die Landesregierung auf Ihre Große Anfrage mit dem Thema „Prävention in Schleswig-Holstein“ geantwortet. Wird hinsichtlich der Prävention genug im Land getan oder was ist unbedingt verbesserungswürdig? Und ist das Gesunde-Herz-Gesetz ein Schritt in die richtige Richtung?
Nein, aus meiner Sicht wird in Sachen Prävention in Schleswig-Holstein sogar deutlich zu wenig getan. Wir stehen allein schon vor dem grundsätzlichen Problem, dass es überhaupt kein landespolitisches Präventionskonzept gibt. Soll heißen: Es gibt zwar mal hier oder da ein Angebot, aber von einer Art Flächengerechtigkeit kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer gezielten inhaltlichen Steuerung durch die Landesregierung. Es ist aus Sicht des SSW nicht nur bedauerlich, sondern zunehmend fahrlässig, dass das Land hier überhaupt keine politisch-gestalterische Rolle einnimmt. Es gibt keinen präventionspolitischen Handlungsplan und kein Konzept. Aber genau das wäre in Zeiten knapper werdender Mittel eine enorm wichtige Aufgabe für die Landesregierung.
Darüber hinaus ist eine ausgeprägte „Projektitis“ ein absolutes Kernproblem im bestehenden System. Eigentlich sollte hinlänglich bekannt sein, dass gerade in der Präventionsarbeit langfristig angelegte Angebote und verlässliche Strukturen enorm wichtig sind. Aber genau das Gegenteil wird bisher praktiziert. Noch dazu verweist die Landesregierung bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die Hauptverantwortung der Krankenkassen und Kommunen. Im Ergebnis sind damit viel zu viele gute Ansätze nur als Projekt angelegt. Ein Angebot im Bereich der Suizidprävention durch den Verein Lichtblick aus Flensburg, das wir langfristig im Haushalt verankern konnten, bildet da leider eine der ganz wenigen Ausnahmen.
Außerdem werden grundsätzlich zu wenig Ressourcen für die verschiedenen Aufgaben in diesem wichtigen Bereich bereitgestellt. Nehmen wir die aktuellen Auswirkungen des Cannabis-Gesetzes als Beispiel: Hier gibt es nachweislich viel zu wenig Präventionsangebote. Für uns vom SSW ist aber völlig klar: Lehrkräfte, SozialarbeiterInnen, ErzieherInnen aber auch Eltern brauchen viel mehr Handreichung und es braucht insgesamt eben auch deutlich mehr Ressourcen, um hier effektiv und vor allem hochqualitativ Prävention betreiben zu können. Doch leider wird deutlich, dass wir es nicht nur hier, sondern im gesamten Präventionsbereich mit einem mangelnden Ehrgeiz der Landesregierung und einer tendenziellen Unterfinanzierung zu tun haben.
Unabhängig davon kann eine Initiative wie das Gesunde-Herz-Gesetz selbstverständlich einen wichtigen Beitrag zu einer kohärenten Präventionsstrategie leisten. Denn es ist unstrittig, dass die Zahl der Herztoten zu hoch ist. Vor diesem Hintergrund sind alle Maßnahmen, die effektiv dazu beitragen, dass Risikofaktoren von Herz-Kreislauf-Erkrankungen möglichst früh erkannt und bekämpft werden, zu begrüßen.
Welche Themen stehen für diese Legislaturperiode noch auf Ihrer Agenda als SSW-Gesundheitspolitiker ganz oben?
Bei der Weiterentwicklung der medizinischen Versorgungsstrukturen stehen wir als Flächenland weiterhin vor großen Herausforderungen. Bekanntlich steigt das Durchschnittsalter der Ärzteschaft stetig an. Gleichzeitig finden sich bisher aber nicht genügend NachwuchsmedizinerInnen, die den Job als Landärztin oder Landarzt übernehmen wollen. Wir sehen daher die dringende Notwendigkeit, über alle Denkverbote hinweg nach Lösungen zu suchen, um die wohnortnahe, flächendeckende Versorgung auf hohem Niveau zu sichern. Neben dem Potenzial, das uns die Telemedizin bietet, muss daher vor allem die Gründung Medizinischer Versorgungszentren erleichtert und die Arbeit der Kommunen in diesem Bereich gestärkt werden.
Im Bereich der Pflege wird es zunehmend darum gehen, diese für die Betroffenen und ihre Angehörigen überhaupt noch ansatzweise bezahlbar zu gestalten. Hier werden wir uns daher für den stationären Bereich weiterhin für eine Deckelung der Eigenanteile einsetzen und auch in Zukunft die Finanzierung der Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen durch das Land (analog zum Krankenhauswesen) fordern. Außerdem werde ich mich auch weiterhin in ganz besonderem Maße für die große, aber leider leise Gruppe der pflegenden Angehörigen einsetzen. Ohne sie wäre das System längst kollabiert. Und es ist aus meiner Sicht völlig unverantwortlich, dass sich die Politik auf diese enorm wichtige Arbeit der Angehörigen verlässt, ohne dafür zumindest eine annähernd gerechte Lohnersatzleistung zu organisieren. Hier werde ich genauso dranbleiben, wie an der Forderung nach einem substanziellen und vor allem flächendeckenden Ausbau von Kurzzeitpflegeangeboten. Denn ein solches Angebot entlastet nicht zuletzt die pflegenden Angehörigen, die es in vielen Fällen wirklich bitter nötig haben.
Und last but not least gilt es, die Folgen der jüngst beschlossenen Krankenhausstrukturreform des Bundes für unsere Krankenhäuser nicht nur genau zu überwachen, sondern im Zweifel auch abzumildern. Denn bis dato wurde uns hierzu noch keinerlei Auswirkungsanalyse vorgelegt. Daher muss man hier bei aller gebotenen Notwendigkeit einer Spezialisierung der Häuser weiterhin mit Fehlentwicklungen rechnen. Und spätestens, wenn diese zu unzumutbaren Härten oder Einschränkungen in der Versorgung der Bürgerinnen und Bürger führen, ist für uns eine rote Linie überschritten.
Der SSW vertritt bekanntlich die dänische Minderheit hier in Deutschland. In der Gesundheitspolitik wird das dänische Gesundheitssystem häufig als positives Vorbild herangezogen. Was würden Sie am liebsten aus dem dänischen Gesundheitssystem in unser Gesundheitssystem übernehmen wollen?
Ganz grundsätzlich würde ich am liebsten das Finanzierungsmodell auf unser deutsches Gesundheitssystem übertragen wollen. Dies kommt natürlich einer Revolution gleich und wäre damit gleichzeitig wohl auch eines der schwierigsten Reformvorhaben überhaupt. Aber das dänische steuerfinanzierte System für alle Bürgerinnen und Bürger bietet gerade aus Patientensicht viele Vorteile. Wer, wie der SSW, weg will von einer gesundheitspolitischen Zweiklassengesellschaft, kann hier einiges lernen.
Gerade in Zeiten, in denen z. B. der Bedarf an Pflege aber längst nicht nur die Kosten hierfür absehbar immer weiter steigen, lassen sich durch ein steuerfinanziertes Modell soziale Härten vermeiden und ein Versorgungsniveau aufrechterhalten, das man guten Gewissens menschenwürdig nennen kann. Wenn wir beim Beispiel der Pflege bleiben, muss diese aus meiner Sicht endlich als gesamtgesellschaftliche Aufgabe anerkannt und auch entsprechend finanziert werden. Deshalb wäre die rein steuerfinanzierte Variante die sauberste Lösung. Eine solidarische Pflegevollversicherung würde sicherstellen, dass Menschen, die viel besitzen auch entsprechend viel zu einer funktionierenden Pflegeinfrastruktur beitragen. Und es wäre gewährleistet, dass Menschen, die wenig haben trotzdem menschenwürdig gepflegt werden, ohne dabei zu verarmen. Und genau das muss meiner Meinung nach das absolut vorrangige Ziel auch in der Landespolitik sein.
Außerdem entstehen in einem steuerfinanzierten Modell größere Freiräume und Möglichkeiten, um sich mit langfristigen, wahlperiodenübergreifenden Maßnahmen und Zielen auseinanderzusetzen und sich verbindlich auf diese zu verständigen. Auch hier kann die Prävention als Beispiel dienen: Im Rahmen des präventiven Gesundheitsprogramms „Nordic Health 2030“ haben sich Entscheidungsträger aus Politik, Krankenhäusern und Gesundheitsorganisationen der nordeuropäischen Länder zusammengetan, um das Gesundheitssystem zu revolutionieren. Hier hat man sich also längst auf den Weg gemacht, um eine Verschiebung von der Krankenversorgung hin zu Prävention zu erreichen. Alle beteiligten Akteure teilen die Verpflichtung, eine bessere Gesundheit auf individueller und gesellschaftlicher Ebene zu erreichen. Ziel ist es, dass die nordischen Länder ab dem Jahr 2030 fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Krankheitsbehandlung und fünf Prozent für Prävention ausgeben (2017 lagen diese Werte noch bei 9,8 bzw. 0,3 Prozent). Das macht aus meiner Sicht auch für unser System deutlich, dass Prävention kein Appendix der Gesundheitsversorgung sein darf, sondern als gleichberechtigte Säule gesehen und finanziert werden muss.