Die Behandlungs- und Medikationsinformationen über Patienten und Patientinnen liegen brach. Sie sind zum Teil bei der Hausärztin, bei dem Fachspezialisten oder noch in der Apotheke und der Krankenkasse. Die Zusammenführung der Informationen stellt das deutsche Gesundheitssystem vor große Herausforderungen. Wenn beispielsweise Hausarztpraxen nicht wissen, welche Behandlungen durchgeführt und welche Medikamente verschrieben worden sind, während eine Patientin im Krankenhaus war, fehlt die notwendige Transparenz, um die weitere Behandlung optimal und sicher zu gestalten. Die Digitalisierung bietet aber Chancen und Möglichkeiten, um das Problem zu lösen.
Wir fragen nach bei Marcel Böttcher, Abteilungsleiter der Abteilung „Digitale Versorgung/Prävention“, worin er in diesem Zusammenhang die Herausforderungen sieht und welche digitalen Lösungen die Barmer für eine bessere Patientensicherheit bietet.
Herr Böttcher, wieso ist die Patientensicherheit hierzulande noch so mangelhaft?
Deutschlands Gesundheitswesen hängt in der Digitalisierung um Jahrzehnte zurück. Das sage nicht ich, sondern unser Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach.
Natürlich erfassen Praxen, Krankenhäuser oder Pflegeheime schon längst Patientendaten digital. Das große Problem ist aber, dass diese Daten in Silos liegen und nicht verknüpft sind – was ein tatsächliches Risiko für die Versicherten darstellt. Der automatische, intersektorale Datenaustausch funktioniert noch nicht. Meist wissen Hausarztpraxen nichts von den Medikamenten, die während des Krankenhausaufenthaltes verschrieben worden sind. Medikationspläne und Diagnosen werden nicht zentral abgelegt.
Die Barmer plädiert schon lange für den verpflichtenden Medikationsplan ab der ersten Verschreibung und für alle Schwangeren. Initiativen wurden schon ergriffen. Die Barmer hat im Rahmen von drei Innovationsfonds-Projekten digitale Lösungen entwickelt, um das Risiko bei der Einnahme von Medikamenten zu minimieren. Vom Projektende bis zur tatsächlichen Umsetzung in die Regelversorgung wird jedoch erwartungsgemäß einige Zeit vergehen. Im Sinne der Versicherten müssen wir schon heute mehr in der Regelversorgung tun.
Die Digitalstrategie des BMG, die am 9. März 2023 vorgestellt wurde, hat mehrere Ziele für digital unterstützte Therapiesicherheit. Geht das in die richtige Richtung?
Absolut, die Digitalstrategie entspricht zum größten Teil der Vision der BARMER. In Sachen Arzneimitteltherapiesicherheit wurden zwei Ziele definiert: Bis Ende 2025 sollen 80 Prozent der elektronischen Patientenakte (ePA)-Nutzenden mit mindestens einem Arzneimittel eine digitale Medikationsübersicht bekommen. Ungewollte Wechselwirkungen von Arzneimitteln sollen vermieden werden, indem – in enger Verknüpfung mit dem E-Rezept – die ePA für jeden Versicherten mit einer vollständigen, weitestgehend automatisiert erstellten, digitalen Medikationsübersicht befüllt wird.
Wir wollen aber nicht warten, bis die dafür notwendigen gesetzlichen Anpassungen umgesetzt sind. Wir wollen schnell handeln. Daher arbeiten wir schon seit letztem Jahr mit unseren Partnern an einer Sofortlösung, um das Potenzial für Wechselwirkungen und gefährliche Konsequenzen für Patientinnen und Patienten möglichst zu minimieren. Wir bauen also eine sofort anwendbare Brückenlösung: die Behandlungshistorie in der eCare (der ePA der Barmer).
Was ist die Behandlungshistorie in der eCare?
Es handelt sich um einen an den Bedürfnissen der Ärztinnen und Ärzte ausgerichteten Überblick zum Gesundheitszustand unserer Versicherten, mit den wichtigsten Informationen zu verschriebenen Medikamenten, Arztbesuchen und Diagnosen. Noch basiert das auf unseren Abrechnungsdaten. Doch schon heute ist es mehr als das. Denn sie sind nicht wie bisher und bei anderen Kassen in Form einer Quittung ohne Systematisierung aufgeführt. Sie sind sortiert, chronologisch und thematisch geordnet, sodass sie im Krankenhaus oder in der Praxis direkt genutzt werden können.
Versicherte müssen die Barmer für die Erstellung ihrer Behandlungshistorie lediglich in der eCare berechtigen und schon können wir sie bereitstellen und regelmäßig aktualisieren.
Noch ist die Behandlungshistorie in Form einer PDF verfügbar. Meinen Sie wirklich, dass das helfen kann?
Ja, davon bin ich überzeugt! Die Behandlungshistorie hat drei konkrete Vorteile:
1. Einfache Befüllung für Versicherte. Die Daten sind ohne extra Aufwand für Ärztinnen und Ärzte verfügbar.
2. Es sind zuverlässige Abrechnungsdaten – denn Ärztinnen und Ärzte vertrauen nicht immer auf die Daten der Versicherten.
3. Mehr Behandlungssicherheit dank Informationen über Medikamente und Diagnosen sowie Unterstützung der Anamnese.
Oft wissen Patienten nicht genau, welches Medikament sie einnehmen oder welche Diagnose erstellt wurde. Im Vergleich zur jetzigen Situation, wo keine Daten zentral gespeichert sind und Patienten oft mit gar keinen Informationen in die Praxen kommen, ist diese PDF-Datei sehr wertvoll. Sie wird Ärztinnen und Ärzten helfen, einen besseren Überblick über den Gesundheitszustand ihrer Patienten zu gewinnen und die Behandlung, sowie weitere Verschreibungen besser abzustimmen. Dadurch können Doppeluntersuchungen vermieden und Medikationsrisiken minimiert werden.
Außerdem konnten wir in unserem Innovationsfondsprojekt AdAM bereits nachweisen, dass wir über diesen Weg sogar die Sterblichkeit bei Versicherten mit Polypharmazie reduzieren konnten. Hochgerechnet auf Deutschland lassen sich mit dieser Lösung bis 65.000 Todesfälle im Jahr vermeiden. Für uns eine zentrale Erkenntnis, die uns darin bestärkt hat, hier schnelle und praktikable Lösungen für die Versicherten zu entwickeln.
Wie bekommen Praxen und Krankenhäuser Zugriff darauf?
So gut wie alle Praxen und Krankenhäuser sind schon an die Telematik-Infrastruktur angebunden. Das bedeutet, dass sie die ePA über die Schnittstelle mit ihrem Praxisverwaltungssystem einsehen können. Dies setzt nur voraus, dass die Versicherten ihnen eine Berechtigung erteilt haben.
Nutzt eine Arztpraxis bzw. ein Krankenhaus doch noch nicht die elektronische Patientenakte, so ist ein Umweg möglich. Die Versicherten können zum Beispiel die PDF-Datei ausdrucken und mitbringen. Das ist zwar nicht digital, aber praktisch.
Wir haben uns viel von der ePA versprochen. In der Versorgung ist sie aber noch nicht angekommen. Was muss noch geschehen?
Zuerst müssen wir als Kasse Mehrwerte für die Versicherten schaffen. Das ist genau, was wir mit der Behandlungshistorie anstreben.
Eine große Rolle wird auch die Einführung des Opt-Out-Verfahrens spielen, voraussichtlich ab Anfang 2025. Dadurch wird der Zugang zur ePA vereinfacht und derer Nutzung nach und nach zum Standard werden. Alle gesetzlich Versicherten erhalten die ePA dann automatisch – die Nutzung bleibt dennoch freiwillig, weil sie widersprechen können.
Last but not least muss die Ärzteschaft auch tatsächliche Mehrwerte erleben, etwa durch die Vereinfachung oder gar die Beschleunigung von Arbeitsprozessen. Das geht vor allem über eine hervorragende Benutzbarkeit, angepasst an die digitalen Bedürfnisse der Versorgung. Da sind die Hersteller der Praxisverwaltungs- und Krankenhaussysteme, mit denen die Ärztinnen und Ärzte arbeiten, gefragt.
Herr Böttcher, vielen Dank für das Gespräch.
Mehr zur Behandlungshistorie in der eCare auf www.barmer.de