Corona hat für einen beispiellosen Digitalisierungsschub in Deutschland gesorgt. Doch ausgerechnet im Gesundheitsbereich fällt dieser schwächer aus als beispielsweise in der Arbeitswelt. Zu diesem Ergebnis kommt der diesjährige D21-Digital-Index. Und zeichnet ein komplexes Bild über die Digitalisierungsbereitschaft der deutschen Patienten.
„High-Tech Standort Deutschland: Um ein Folgerezept beim Arzt zu bekommen (bei dem ich schon mal war), muss man entweder in die Praxis oder die Versichertenkarte per Post schicken. #neuland“
Mit diesem Tweet verlieh im Februar 2021 ein Twitter-Nutzer seinem Frust Luft. Er wird sich nun über das neue eRezept und weitere Fortschritte freuen, doch während Menschen wie ihm die Reise in die digitale Gesundheitszukunft oft allgemein viel zu langsam geht, fremdeln andere noch mit den Möglichkeiten, die es bereits gibt.
Das zeigen die Ergebnisse des neuen „D21-Digital-Index“: Die Corona-Pandemie hat der Digitalisierung in Deutschland einen enormen Schub verpasst. Davon kommt jedoch beim Gesundheitssektor weit weniger an als beispielsweise im Bereich Arbeit. Die Initiative D21 liefert mit ihrem Digital-Index seit 2013 jährlich ein ausführliches Lagebild zum Digitalisierungsgrad der Gesellschaft in Deutschland. Für die diesjährige empirische Studie wurden 16.158 Personen ab 14 Jahre befragt.
Grundsätzlich erfasst die fortschreitende Digitalisierung auch die Bevölkerung: Die Studie stuft inzwischen 44 Prozent der Deutschen als „Digitale VorreiterInnen“ ein, 40 Prozent als „Digital Mithaltende“ und nur noch 16 Prozent als „Digital Abseitsstehende“ – zwei Prozent weniger als im Vorjahr. Auch der sogenannte Digital-Index – der verschiedene Faktoren zu einer einzigen Kennzahl bündelt – ist von 58 auf 60 gestiegen. Den größten Anstieg gab es dabei hinsichtlich der Faktoren Nutzungsverhalten und Zugang.
Home Office boomt, große Unterschiede bei digitaler Gesundheit
Einen großen Zuwachs hat erwartungsgemäß der Bereich Mobiles Arbeiten, Telearbeit und Home Office erlebt: 32 Prozent der Befragten arbeiten zumindest teilweise mobil oder von Zuhause aus, mehr als doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Für 34 Prozent dieser Telearbeitenden war die Corona-Krise der Auslöser und sie arbeiten erst seitdem im Home Office. Wie viele von ihnen nach dem Ende der Pandemie wieder ins Büro zurückkehren werden, konnte nicht erhoben werden. Aber dass die Werte wieder komplett auf das alte Niveau zurückfallen, kann als sehr unwahrscheinlich gelten.
Im Bereich Gesundheit zeigt sich ein eher uneinheitliches Bild. Einerseits boomen digitale Gesundheits-Anwendungen: 33 Prozent der Deutschen verwendet inzwischen Schrittzähler, Schlaftracker oder Apps zur Messung von Herzfrequenz oder Blutdruck. Zwei Jahre zuvor waren es nur 12 Prozent.
In einem anderen Feld hat sich hingegen vergleichsweise wenig getan: 34 Prozent können sich vorstellen, sich von einem Arzt oder einer Ärztin per Videosprechstunde behandeln zu lassen. Das sind zwar 8 Prozent mehr als im Vorjahr, aber weniger, als man angesichts von Lockdown und Videokonferenz-Boom vielleicht erwartet hätte. Zumal erschwerend hinzukommt, dass die Altersgruppen mit den häufigsten Arztbesuchen sogar noch deutlich unter diesem Schnitt liegen: bei den über 60-jährigen sind es noch 27 Prozent, bei den über 70-jährigen nur noch 17 Prozent Aufgeschlossene für ärztliche Videosprechstunden.
Entsprechend machen nach wie vor nur sehr wenige Menschen von den Möglichkeiten der Telemedizin Gebrauch. Selbst in Zeiten von Corona, in denen sich die meisten ja bemühen, persönliche Kontakte so gut es geht zu reduzieren, holten sich nur 5 Prozent derjenigen, die ohne Praxisbesuch mit einer Ärztin oder einem Arzt Kontakt hatten, dabei Rat in einer Videosprechstunde. Zum Telefonhörer wurde deutlich häufiger gegriffen, allerdings kommt es auch stark auf das jeweilige gesundheitliche Problem an. Bei besonders sensiblen Themen „scheint die Technologie heute (noch) keinen adäquaten Ersatz für das persönliche bzw. telefonische Gespräch erbringen zu können.“, so die Studienautoren.
Für alle diejenigen Versicherten und digitalen Vorreiter, die für das Angebot einer ärztlichen Online-Behandlung bereits offen sind, bietet die Barmer genau das: Mit der Fernbehandlung haben Versicherte die Möglichkeit, sich schnell und unkompliziert per Videotelefonie ärztlich beraten zu lassen. Hierbei kommunizieren sie ausschließlich digital mit einem Arzt bzw. einer Ärztin. Sollte vor oder während der ärztlichen Videoberatung festgestellt werden, dass ein persönlicher Arztkontakt notwendig ist, unterstützt die Barmer bei der Arztsuche und Terminvereinbarung.
Untersuchung häufig zunächst vor Ort, Folgetermine per Video-Call
„Die individuelle Gesundheit hat eine sehr hohe Bedeutung für viele Menschen und die persönliche Behandlung vermittelt Sicherheit“, erklärt Dr. Ursula Marschall, Ärztin und Gesundheitsökonomin, die als Barmer-Expertin auch in der D21-Studie zitiert wird. „Dass ein digitales Behandlungsgespräch eine ähnliche Nähe erzielen kann wie das Gespräch in der Praxis, muss erst erlebt werden, damit die unbewussten Ängste abgebaut werden.“ Auch wenn Videosprechstunden noch sehr selten genutzt werden, sorgte auch hier die Pandemie für einen deutlichen Zuwachs: Fast alle der befragten Nutzer hatten durch Corona erstmalig von der Möglichkeit der Videosprechstunde Gebrauch gemacht.
Für Dr. Marschall bietet die Telemedizin große Chancen, die für sie aber vor allem in der Ergänzung des bisherigen Systems liegen, statt in einer kompletten Verdrängung von Praxisterminen. „Damit eine Ärztin oder ein Arzt ein umfassendes Bild erhält, gehört die körperliche Untersuchung dazu. Nicht nur das Abhören der Herztöne oder der Lunge weist den Weg zur richtigen Diagnose, auch der Verdacht auf eine Kreuzbandverletzung im Knie kann durch eine manuelle Untersuchung bereits sehr früh gestellt werden.“
Sie hält deshalb zum Beispiel eine Kombination aus Erstbesuch in der Praxis vor Ort und Folgeterminen per Videosprechstunde für eine sinnvolle Lösung, die das Beste aus beiden Welten vereint. „Hat die Patientin oder der Patient später weitere Fragen, können diese gut in einer digitalen Videosprechstunde beantwortet werden. Dafür ist kein persönlicher Kontakt erforderlich, sehr wohl aber Zeit für einen persönlichen Austausch.“
Auch bei der grundsätzlichen Haltung zur Digitalisierung des Gesundheitswesens gibt es große Unterschiede: Mit 55 Prozent vertraut etwas mehr als die Hälfte der Deutschen darauf, dass Datenschutz und -sicherheit eingehalten werden, wenn sie Gesundheitsanwendungen nutzen. Mehr als ein Drittel (36 Prozent) äußert sich jedoch gleichzeitig besorgt darüber, dass sie mit der fortschreitenden Digitalisierung mehr und mehr von der medizinischen Versorgung abgeschnitten werden könnten. Diese Furcht ist besonders bei Befragten im Alter von mehr als 65 Jahren sowie in den östlichen Bundesländern überdurchschnittlich verbreitet.
Das deckt sich mit grundsätzlicheren Erhebungen der Studie, denn diese beiden Bevölkerungsgruppen sind es auch, die das Internet und digitale Dienste weit weniger nutzen als der Durchschnitt. Auch an anderen Stellen der Studie zeigen sich klare Einstellungsunterschiede abhängig von Alter: Der Aussage „Ich wünsche mir mehr digitale Möglichkeiten im Gesundheitsbereich“ stimmten 44 Prozent der 14- bis 29-Jährigen zu, aber nur 17 Prozent der über 65-Jährigen. Ebenso sinkt ab einem Alter von 50 Jahren die Bereitschaft stark ab, sich mit entsprechender Technik auszustatten, um beispielsweise Videosprechstunden nutzen zu können.
Stadt und Land sind unterschiedlich optimistisch
Eine der größten Chancen der Digitalisierung im Medizinbereich wird meist in einer besseren Versorgung der ländlichen Regionen gesehen. Dort, wo die Bevölkerungsdichte niedrig und die Arztdichte oft noch niedriger ist, könnte Telemedizin den entscheidenden Unterschied machen, so die Hoffnung. Doch die Patienten sind skeptischer: Mit 48 Prozent glaubt nur etwas weniger als die Hälfte, dass sich die Versorgung auf dem Land durch die Digitalisierung verbessern wird.
In Städten mit weniger als 20.000 Einwohner – also solchen, die davon eher profitieren würden – liegt die Zustimmung mit 42 Prozent noch mal ein wenig niedriger. Auch hier hat sich allerdings durch Corona etwas geändert: Fast ein Viertel der Befragten (23 Prozent) gab an, vor der Pandemie nicht so aufgeschlossen für Telemedizin, Videosprechstunden oder generell die Digitalisierung des Gesundheitswesens gewesen zu sein wie jetzt.
Die Autorinnen und Autoren der D21-Studie kommen zu dem Fazit: „Während digitale Anwendungen und Kommunikation in nahezu allen Bereichen des Lebens an Bedeutung gewinnen, sind sie im Gesundheitsbereich – zum Beispiel im Austausch mit ÄrztInnen – noch weniger verbreitet.“
Das bedeutet wiederum, dass auch und gerade Krankenkassen wie der Barmer eine wichtige Rolle zukommt, wenn es darum geht, die grundsätzlich vorhandene Aufgeschlossenheit zu stützen und durch Aufklärung und vertrauensbildende Maßnahmen dort zu fördern, wo sie vielleicht noch fehlt. „Die Ängste vor der Digitalisierung sind unbewusst. Es gibt wenig persönliche Erfahrungen“, sagt Dr. Marschall, die bei der Barmer den Forschungsbereich Medizin/Versorgungsforschung leitet.
Auch sie sieht eine zentrale Aufgabe der Barmer in der Information: „Dabei geht es um verständliche Kommunikation, die nicht eigene Interessen vertritt. Der informierte Patient kann selbst entscheiden, welches Angebot er zu welchem Zeitpunkt annimmt. Aber ohne Wissen über die Chancen und Risiken vermeidet er oder sie lieber das Neue und Unbekannte. Damit entgehen uns aber die Vorteile, die eine digitale Behandlung mit sich bringen kann. Als Beispiel ist hier nur die Vermeidung von langen Wartezeiten oder Anfahrtswegen zu nennen.“
Anfahrtswege heißt nämlich auch immer Ressourcenverbrauch. Gemeinsam mit der Uniklinik Bonn beschäftigt sich die Barmer systematisch mit der Frage, inwiefern die Vereinfachung der sogenannten „Patientenpfade“ mit Hilfe von Telemedizin, zum Beispiel in der Orthopädie, eine Steigerung etlicher Dimensionen von Nachhaltigkeit ermöglicht und nicht zuletzt die CO2-Bilanz verbessern helfen kann.