Nach Infektionsgefahren stellen Medikationsfehler das größte Risiko für Krankenhauspatienten dar. Nach validen Schätzungen wird mit ca. 200.000 Krankenhauseinweisungen aufgrund von Medikationsfehlern und 10.000 bis 24.000 Todesfällen aufgrund von unerwünschten Arzneimittelereignissen pro Jahr in Deutschland gerechnet. Gründe für Lücken bei der Arzneimitteltherapiesicherheit sind gestiegene medizinische Komplexität bei veralteten Strukturen und überkommenen papierbasierten Prozessen.
Für eine optimale Arzneimitteltherapiesicherheit ist neben einem elektronischen Verordnungsprogramm ein ganzheitlicher Versorgungsprozess wichtig. Während im Jahr 2017 Schlagworte wie „Digitale Gesundheit“, „Krankenhaus 4.0“ und die „Watson-Ära“ erst diskutiert werden, hat das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) bereits 2009 begonnen, einen geschlossenen, digitalen Medikationsprozess, den sogenannten Closed Loop Prozess, einzuführen und ihn in den Folgejahren flächendeckend ausgerollt.
Kernstück ist ein Verschreibungssystem für Medikamente, das innerhalb einer komplett elektronischen Patientenakte etabliert wurde. Durch die gleichzeitige Einführung einer Unit-Dose-Versorgung ist dieses System mit der pharmazeutischen Logistik der Krankenhausapotheke gekoppelt. Darüber hinaus kontrollieren klinische Apotheker den Medikationsprozess auf allen Ebenen der Versorgung.
Fester Bestandteil dieses Konzepts ist die werktägliche pharmazeutische Kurvenvisite auf den Stationen. Alle neuen Verordnungen werden von einem klinischen Apotheker nach festgelegten Kriterien im digitalen Workflow geprüft und für die weitere logistische Verarbeitung freigegeben.
Die im papierlosen Prozess auf diese Weise freigegebenen Verordnungen werden an Verpackungsautomaten in der Apotheke weitergeleitet. Die Verabreichung der Arzneimittel wird ebenfalls elektronisch durch das Pflegepersonal auf Station dokumentiert, womit der Medikationskreislauf geschlossen wird.
Nach einem klaren Zeitplan, der sich an den Visitenzeiten orientiert, werden heute täglich ca. 15.000 Units in der Apotheke produziert. Die Lieferungen enthalten Medikamente zur ersten Abendgabe für die nächsten 24 Stunden. Dabei sind orale Medikamente einzeln in Tüten verpackt und mit allen wichtigen Daten wie Name der Station, Zimmernummer, Handels- und Freiname des Arzneimittels, Hinweis zur Einnahme sowie Datum und Gabezeit versehen. Zusätzlich ist ein QR-Code aufgedruckt, über den per Smartphone die gesamte Packungsinformation (Beipackzettel) mit allen sicherheitsrelevanten Informationen abgerufen werden kann.
Darüber hinaus werden auch alle einzeln dosierten, nicht oralen Präparate, wie Ampullen, Injektionsflaschen, Fertigspritzen etc. patientenbezogen geliefert. Um 16.00 Uhr verlassen alle Sendungen die Apotheke, so dass dem Pflegedienst genug Zeit bleibt, um Medikamente zur ersten Abendgabe zu verteilen.
Vor der Gabe werden die Lieferungen durch den Pflegedienst kontrolliert und in der Software dokumentiert. Dabei müssen eventuelle Änderungen, die das System deutlich anzeigt, berücksichtigt werden. Können Arzneimittel nicht gegeben werden, wird dies ebenfalls im System unter Angabe des Grundes dokumentiert. So stehen jeder Berufsgruppe alle Informationen zum aktuellen Stand der Medikation zur Verfügung.
Nach mehrjähriger Erfahrung ist der digitale und stark automatisierte Prozess heute mit hoher Akzeptanz etabliert. Insbesondere Pflegekräfte profitieren von der Arbeitsentlastung und genießen es, einen fehlerträchtigen Prozess an die Apotheke abgegeben zu haben.
Die Effektivität des geschlossenen digitalen Versorgungsprozesses in Bezug auf die Medikationssicherheit wurde im Rahmen einer Studie* getestet. Hierzu wurden auf zwei Stationen des UKE insgesamt 3.111 Medikationen analysiert. Davon wurden 95,6 Prozent über die Unit-Dose-Versorgung der Apotheke und 4,4 Prozent - überwiegend Bedarfsmedikation - manuell durch Pflegende gestellt.
Insgesamt wurden bei beiden Stationen 49 Abweichungen ermittelt. Das entspricht einer Abweichungsrate von nur 1,6 Prozent. Bei 2.981 Medikationen, die auf das Unit-Dose-Verfahren entfielen, betrug die Abweichung lediglich 0,7 Prozent. Bei den 130 manuell gestellten Arzneimitteln wurden demgegenüber 28 Abweichungen registriert, was einer Abweichungsquote von 21,5 Prozent entspricht. Im traditionellen, papier- und vorratsschrankbasierten Versorgungssystem liegtdie Diskrepanzrate nach einer analogen Studie** bei 56 Prozent.
Das Ergebnis zeigt, dass der papierlose, elektronische Arzneimittelversorgungsprozess dem traditionellen stationären Verfahren überlegen ist und zu mehr Sicherheit in der Medikamentenversorgung von Patienten führt. Darüber hinaus wurde deutlich, dass die Unit-Dose-Versorgung eine wesentliche Rolle für die Fehlervermeidung führt und auch in einem Krankenhaus der Maximalversorgung effektiv organisiert werden kann. Hierbei kommt es primär auf die Kopplung von elektronischer Verordnung und patientenorientierter Logistik an.
Der geschlossene Medikationsprozess bietet schließlich die besten Voraussetzungen für die Umsetzung des E-Health-Gesetzes und unterstützt das Entlassmanagement, denn über ein Aufnahmetool der Medikationssoftware kann der QR-Code des bundeseinheitlichen Medikationsplans (BMP) gelesen und die Hausmedikation fehlerfrei in das Krankenhaussystem übertragen werden. Automatische Algorithmen unterstützen den Arzt während der Anamnese bei der Umstellung der Hausmedikation auf Präparate des Krankenhauses. Bei Entlassung wiederum kann automatisch auf die Hausmedikation zurückgestellt werden, so dass der aktualisierte BMP, das Entlassrezept und der Arztbrief auf einer kongruenten Basis erstellt werden können.
* Baehr M, van der Linde A, König R, Melzer S, Langebrake C, Groth- Tonberge C, Hug MJ. Kopplung von elektronischer Verordnung und patientenorientierter Logistik - Signifikante Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit. KHP 35:110-117 (2014)
** Groth-Tonberge C, Häckh G, Strehl E, Hug M. Führt die elektronische Verordnung zu einer erhöhten Arzneimitteltherapiesicherheit? Krankenhauspharmazie 33:476-479 (2012)