Kiel, 19. Februar 2020 – Auf dem deutschen Pflegemarkt ist ein neuer Trend zu beobachten. Es gibt es immer häufiger betreutes Wohnen und Wohngemeinschaften. Diese Wohnformen waren im Vergleich zum Pflegeheim allein im Jahr 2018 um knapp 400 Millionen Euro teurer, ohne dass es einen gesicherten Nachweis der Pflegequalität gab. Das geht aus dem kürzlich erschienenen Barmer-Pflegereport 2019 hervor. In Schleswig-Holstein leben nach aktuellen Schätzungen bereits 900 Menschen in Pflege-Wohngemeinschaften (bundesweit 31.000) und 5.000 Personen in Einrichtungen des betreuten Wohnens (bundesweit 150.000).
„Immer mehr Menschen entscheiden sich als Alternative zum Pflegeheim für betreutes Wohnen oder Pflege-Wohngemeinschaften. Diese Wohnformen sind für die Bewohner und Betreiber zwar finanziell attraktiv, unterliegen aber keinem Qualitätssicherungsverfahren wie die Heime. Angesichts qualitativer Defizite müssen nun zeitnah Qualitätsmaßstäbe für diese Pflege- und Betreuungsformen entwickelt werden“, so Dr. Bernd Hillebrandt, Landesgeschäftsführer der Barmer in Schleswig-Holstein. „Im Sinne der Pflegebedürftigen und ihre Familien ist es an der Zeit, für mehr Transparenz zu sorgen“, sagt Hillebrandt und fordert Übersichten über Angebote vor Ort, deren Qualität und Anbieter.
Trotz Mehrausgaben kein Plus an Pflegequalität
Aktuell existierten bundesweit bis zu 8.000 betreute Wohnanlagen und 4.000 Pflege-Wohngemeinschaften. In Schleswig-Holstein gibt es schätzungsweise rund 200 betreute Wohnanlagen und rund 100 Pflege-Wohngemeinschaften. Etwa jede dritte dieser Anlagen ist in den letzten zehn Jahren entstanden. „Wer sich für betreutes Wohnen oder eine Wohngemeinschaft entscheidet, sucht vor allem mehr Lebensqualität im Vergleich zu einem Heim. Doch dabei darf die Qualität der Pflege nicht auf der Strecke bleiben“, so Hillebrandt. Denn der Report der Barmer zeige, dass betreutes Wohnen und Wohngemeinschaften im Vergleich zu Pflegeheimen nicht mit mehr Pflegequalität aufwarten könnten. Indizien dafür sind zum Beispiel weniger Arztkontakte. Während 86,6 Prozent der Pflegeheimbewohner einmal im Monat ihren Hausarzt sehen, ist dies in betreutem Wohnen und in Wohngemeinschaften nur bei rund 80 Prozent der Bewohner der Fall. Neue Fälle von Wundliegen, dem sogenannten Dekubitus, sind in betreutem Wohnen zu 66 Prozent wahrscheinlicher als im Pflegeheim. Zugleich mussten 3,6 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner des betreuten Wohnens wegen Erkrankungen ins Krankenhaus, die sich eigentlich ambulant sehr gut behandeln ließen. In Pflegeheimen traten nur 2,4 Prozent solcher Fälle auf.
Als Ursache dafür sieht die Barmer vor allem das Fehlen entsprechender Qualitätsanforderungen. „Wir fordern eine Harmonisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen zwischen den Bundesländern und einen ‘Pflege-TÜV‘ für besondere Pflege- und Betreuungsformen“, so Hillebrandt. Außerdem sollten die Länder generell für die Pflege die Aufsicht übernehmen und für mehr Transparenz auf dem Markt sorgen.
Besonderen Pflege- und Betreuungsformen finanziell attraktiv
Dass die besonderen Pflege- und Betreuungsformen sowohl für Bewohner als auch Betreiber finanziell attraktiv sind, resultiert laut Studie aus ihrer besonderen Konstruktion. Diese Shooting-Stars des Pflegemarktes kombinierten Elemente der ambulanten und stationären Pflege aus der Pflegeversicherung mit Leistungen der häuslichen Krankenpflege aus der Krankenversicherung. So ließen sich in besonderen Pflege- und Betreuungsformen maximale Leistungssummen erzielen, die doppelt so hoch seien wie in der vollstationären Pflege. Das entlaste die Pflegebedürftigen und mache die Alternative zum Pflegeheim auch für die Betreiber wirtschaftlich hoch interessant.
„Betreutes Wohnen und Wohngemeinschaften richten sich immer mehr an der Pflege aus und werden in steigendem Maße direkt von Pflegeeinrichtungen angeboten. Wir sprechen deshalb zu Recht von einer Ambulantisierung der Pflege“, so Hillebrandt. Während nach aktuellen Daten im Jahr 2018 jede vierte betreute Wohnanlage unabhängig von Pflegeeinrichtungen betrieben wurde, war es 15 Jahre zuvor noch fast jede zweite. Insgesamt trage die Entwicklung der besonderen Pflege- und Betreuungsformen dazu bei, dass die Pflege ambulanter werde. So haben sich die Ausgaben für die ambulante Pflege in den Jahren 2000 bis 2018 bundesweit von acht Milliarden auf 22,6 Milliarden Euro fast verdreifacht. In der stationären Pflege hat es hingegen nicht einmal eine Verdoppelung der Leistungsausgaben gegeben, von 7,5 auf 14,3 Milliarden Euro.