Kiel, 27. Dezember 2018 – Jeder vierte Versicherte der Barmer in Schleswig-Holstein hat im Jahr 2016 gleichzeitig fünf oder mehr verschiedene Arzneimittel eingenommen. Je mehr Medikamente eine Patientin oder ein Patient einnimmt, desto unsicherer wird jedoch die Arzneimitteltherapie aufgrund der zu erwartenden Wechselwirkungen. Dass es vermeidbare Risiken gibt, belegt der Barmer-Arzneimittelreport 2018. „Fehlende Verfügbarkeit wichtiger Informationen für Behandlungsentscheidungen, Sprachbarrieren oder unvollständige Medikationspläne stellen Risiken bei der Arzneimitteltherapie dar. Das macht es Ärzten häufig unmöglich, den Überblick zu behalten. Die Patientinnen und Patienten müssen aber besser vor diesen Risiken geschützt werden und sollten auch selbst dazu beitragen“, erläutert Dr. Bernd Hillebrandt, Landesgeschäftsführer der BARMER für Schleswig-Holstein.
Jeder vierte ab 65 erhält ein für ihn problematisches Arzneimittel
Verdeutlicht werde das Ausmaß des Problems der sogenannten Polypharmazie durch die Tatsache, dass viele Menschen gleichzeitig an mehreren chronischen Erkrankungen leiden. 65 Prozent der über 65-jährigen Barmer-Versicherten in Schleswig-Holstein befänden sich wegen fünf und mehr Erkrankungen regelmäßig in ärztlicher Behandlung. Rund 32 Prozent sogar wegen zehn und mehr Erkrankungen. 70 Prozent der Barmer-Versicherten mit einer Polypharmazie seien dabei im Jahr 2016 durch drei oder mehr Ärzte medikamentös behandelt worden. Der Schutz vor vermeidbaren Risiken in der Arzneimitteltherapie gelingt den Auswertungen zufolge nicht immer. So erhielt beispielsweise nahezu jeder vierte Barmer-Versicherte ab 65 Jahren in Schleswig-Holstein im Jahr 2016 ein von Experten nicht für diese Altersgruppe empfohlenes Arzneimittel (23,4 Prozent). Zu den dabei am häufigsten verordneten Wirkstoffgruppen gehörten Entspannungs- und Beruhigungsmittel sowie Schmerzmittel und Entzündungshemmer.
Über 450.000 Zweier-Wirkstoffkombinationen
Teil des Problems ist auch die Unübersichtlichkeit möglicher Varianten bei der Arzneimitteltherapie. Ohne Hilfe ist es für Ärzte kaum noch möglich, den Überblick zu bewahren. Die Analysen belegen für das Jahr 2016, dass Hausärzte im Durchschnitt 60 Arzneimittelwirkstoffe regelmäßig, also mindestens einmal im Quartal, und weitere 100 zumindest einmal pro Jahr verordneten. Im Jahr 2016 seien bei der Barmer insgesamt 1.860 Arzneimittelwirkstoffe zum Einsatz gekommen und zwar in 454.012 Kombinationen von zwei Arzneimittelwirkstoffen. Kein Arzt könne die Risiken derartig vieler Arzneimittelkombinationen ohne Hilfsmittel korrekt einschätzen.
Gesamtmedikation im Blick haben
Mit jedem weiteren verordneten Arzneimittel steige das Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen. „Dies kann nicht an der Zahl von fünf verordneten Medikamenten festgemacht werden, denn auch die Kombination von mehreren Wirkstoffen kann positiv und bisweilen auch lebensrettend sein. Allerdings sollte es jemanden geben, der die gesamte Medikation des Patienten im Blick habe“, erklärt der Barmer-Chef. Erschwert werde dies nicht nur durch die Verordnungen von verschiedenen Ärzten. Zwei Drittel der Polypharmazie-Patienten lösten ihre Rezepte überdies in mindestens zwei verschiedenen Apotheken ein. „Im Versorgungsalltag ist es für Ärzte meist ausgesprochen schwierig, über alle Arzneimittelverordnungen ihrer Patienten Bescheid zu wissen. Hausärzte müssen aber die Möglichkeit haben, die Gesamtmedikation ihrer Patienten zu beurteilen, also auch die von Fachärzten verordneten Arzneimittel. Denn nur dann kann der Arzt die Risiken korrekt einschätzen“, erläutert Dr. Thomas Maurer, Vorsitzender des Hausärzteverbandes Schleswig-Holstein und ergänzt: „Leider haben Patienten oft mehrere Erkrankungen, deren jeweilige Medikamente einfach nicht zusammenpassen. Dann bleibt uns Hausärzten nur die Wahl, welcher Leitlinienverstoß am wenigsten riskant für den Patienten ist. Pateinten leiden nun mal nicht an Laborwerten oder EKG-Veränderungen, sondern an Schmerzen, Schlafstörungen, Depressionen und Ängsten. Da muss man auch mal Kompromisse eingehen.“ Über alles informiert zu sein, gelinge in der Praxis allerdings bei weitem nicht immer. Denn auch der Medikationsplan werde von den Patienten häufig nicht eingesetzt. Eine wichtige Funktion habe dann auch der Apotheker inne. „Hilfreich wäre, wenn Patienten ihre Rezepte immer in einer Apotheke einlösen oder zumindest ihren Medikationsplan stets vorlegen. Dann kann der Apotheker mögliche Probleme bei der Medikation erkennen und im Zweifelsfall Rücksprache mit dem Arzt nehmen“, zeigt Dr. Peter Froese, Vorsitzender des Vorstandes des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein auf. Dabei sollten dann auch nicht verschreibungspflichtige und rezeptfrei gekaufte Medikamente einbezogen werden. „Digitale Anwendungen sind die beste Lösung. Während die elektronische Patientenakte bald kommen wird, sind wir beim elektronischen Rezept leider noch nicht so weit. Das eRezept würde aber die beste Transparenz schaffen“, fordert Hillebrandt eine rasche bundesweite Umsetzung.
Projekt zur Arzneimitteltherapiesicherheit
Damit Ärzte den Überblick über die Arzneimitteltherapie ihrer Patienten behalten, hat die Barmer gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe das Projekt „AdAM“ (Anwendung für digital unterstütztes Arzneimitteltherapie-Management) ins Leben gerufen. Es soll zur Problemlösung beitragen, indem es Hausärzten hilft, vermeidbare Risiken besser zu erkennen. Hausärzte erhalten Daten zur Arzneimitteltherapie, die Verordnungen aller Ärzte umfassen. Zusätzlich erhält der Arzt Hinweise auf potenziell vermeidbare Risiken der Therapie, um für seine Patienten die richtige und sicherste Therapie festzulegen. Ziel ist es, das Projekt in die Regelversorgung zu übernehmen, damit mehr als 20 Millionen Polypharmazie-Patienten in Deutschland davon profitieren können. AdAM wird mit rund 16 Millionen Euro aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert.