Kiel, 19. Oktober 2020 – Die Schnittstellen zwischen der ambulanten und der stationären Gesundheitsversorgung sind zentrale Schwachstellen im deutschen Gesundheitssystem. Beim Übergang zwischen dem stationären und ambulanten Bereich werden insbesondere behandlungsrelevante Informationen zur Medikation nicht in ausreichendem Maße weitergegeben. „Häufig liegen dem Krankenhaus wichtige Informationen zum Patienten, zum Beispiel zur Medikation, nicht vor. Patientinnen und Patienten, die mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen müssen, sind dadurch unnötigen Risiken ausgesetzt“, sagt Dr. Bernd Hillebrandt, Landesgeschäftsführer der Barmer in Schleswig-Holstein. „Dass Patienten mit Polypharmazie ihre Arzneimitteltherapie meist von drei oder mehr Ärzten erhalten, erschwert den notwendigen Informationsaustausch zwischen den Versorgungssektoren obendrein und gefährdet damit die Patientensicherheit“, so Hillebrandt weiter. Aber auch nach Entlassung aus der Klinik würden Patient und weiterbehandelnde Ärzte nicht ausreichend über Therapieänderungen informiert. Das sind zentrale Erkenntnisse aus dem aktuellen Arzneimittelreport der Barmer.
Medikationsplan bei Krankenhaus-Aufnahme häufig nicht vorhanden
Rund 585.000 Menschen sind im Jahr 2018 in Schleswig-Holsteiner Krankenhäusern operiert worden. Rund 260.000 davon waren Patientinnen und Patienten, die fünf oder mehr Medikamente gleichzeitig und andauernd einnehmen. Gerade bei dieser besonders gefährdeten Gruppe kommt es bei der Aufnahme ins und der Entlassung aus dem Krankenhaus häufig zu Informationsdefiziten mit schlimmstenfalls lebensbedrohlichen Folgen aufgrund von Behandlungsfehlern. So hatten nur 29 Prozent der Patienten bei der Klinikaufnahme den bundeseinheitlichen Medikationsplan dabei, der Informationsverluste zwischen Ärzten verhindern soll. Zudem verfügten 17 Prozent über gar keine aktuelle Aufstellung ihrer Medikamente, so die Ergebnisse einer Befragung von bei der Barmer versicherten Polypharmazie-Patienten über 65 Jahren. Vorhandene Medikationspläne waren zudem häufig unvollständig. „Es ist unverständlich, dass die Aufnahme in ein Krankenhaus als hunderttausendfacher Prozess so fehleranfällig ist. Es muss verhindert werden, dass Patienten aufgrund von Informationsdefiziten zu Schaden kommen“, sagt Barmer-Landeschef Hillebrandt.
Patienten bekommen Therapiewechsel häufig nicht erklärt
Wie aus dem Barmer-Report weiter hervorgeht, fließen die Informationen zur Arzneimitteltherapie auch während des Klinikaufenthalts nur bruchstückhaft. So gaben über 30 Prozent der von der Barmer Befragten an, dass ihnen die Arzneitherapie vom Krankenhausarzt nicht erklärt worden sei. Jeder dritte Patient mit im Krankenhaus geänderter Therapie habe zudem vom Krankenhaus keinen aktualisierten Medikationsplan erhalten. „Eine Arzneitherapie kann nur erfolgreich sein, wenn der Patient sie versteht und mitträgt. Dazu muss er sie entsprechend erklärt bekommen. Informationsdefizite dürfen auch deswegen nicht auftreten, weil die Therapie nach einem Krankenhausaufenthalt häufig noch komplexer wird“, sagt Hillebrandt. Zudem würden die Medikationsrisiken im Krankenhaus nicht erkennbar geringer.
Weiterbehandelnden Ärzten fehlen Daten aus dem Krankenhaus
Den Reportergebnissen zufolge stockt zudem die Weitergabe von behandlungsrelevanten Daten aus dem stationären in den ambulanten Sektor. Indizien dafür liefert eine Umfrage für den Arzneimittelreport unter 150 Hausärzten. Demnach waren 40 Prozent der befragten Allgemeinmediziner mit den Informationen durch das Krankenhaus unzufrieden oder sehr unzufrieden. Nur bei jedem dritten betroffenen Patienten sind Therapieänderungen begründet worden. Wie die Routinedatenanalyse zeigt, waren 27,5 Prozent der Schleswig-Holsteiner Patienten, die 2018 in einem Krankenhaus behandelt wurden, bereits vor Aufnahme in die Klinik Polypharmazie-Patienten. Nach dem Krankenhausaufenthalt steigt der Anteil auf knapp 35 Prozent im ersten Quartal. Im dritten Quartal nach dem Eingriff in der Klinik liegt der Anteil an Polypharmazie-Patienten noch immer bei 31 Prozent. „Umfassende Informationen von der Klinik zum weiterbehandelnden Arzt sind unerlässlich. Dies gilt umso mehr, da stationär behandelte Patienten zunehmend älter sowie mehrfach erkrankt sind und polypharmazeutisch behandelt werden. Von einer modernen sektorenübergreifenden Versorgung kann derzeit leider nicht die Rede sein“, so Hillebrandt.
Digitale Lösungen
Ursache der Informationsdefizite sei weniger der einzelne Arzt, als vielmehr der unzureichend organisierte und nicht adäquat digital unterstützte Prozess einer sektorenübergreifenden Behandlung. Es gelte nachzubessern, um die Risiken für Patienten auf ein Minimum zu beschränken und die Arbeit der Ärzteschaft zu erleichtern. Ein Instrument für mehr Sicherheit und Transparenz in der Arzneimitteltherapie kann die elektronische Patientenakte (ePA) sein, die alle gesetzlich Krankenversicherten ab Januar 2021 freiwillig nutzen können.