Die Bundesregierung strebte seit langem eine Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs an. Experten haben nun darüber beraten, wie die Leistungen in der Pflege neu auszurichten sind. Hatte man doch in den letzten Jahren erkannt, dass sich Pflegebedürftigkeit nicht nur an körperlichen, sondern immer stärker auch an geistigen Einschränkungen der Bedürftigen orientieren muss. Grundlage für die Neuausrichtung in der Pflege konnte nur eine ganz neue Definition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs sein. Dieser wird nun zum 01. Januar 2017 eingeführt. Doch mit dessen Einführung ist es nicht getan. Parallel dazu musste auch ein ganz neues Begutachtungsverfahren her. Diese Änderungen sind Teil der Pflegereform, die die große Koalition 2015 mit den Pflegestärkungsgesetzen I und II auf den Weg gebracht hat.
Selbstständigkeit wird Maßstab für Pflegebedürftigkeit
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff geht von einer ganz neuen Begutachtungsphilosophie aus. Maßstab für die Pflegebedürftigkeit wird zukünftig nicht mehr der Hilfebedarf in Minuten, sondern der Grad der Selbstständigkeit eines Menschen sein. Das neue Beurteilungssystem stellt den Menschen, seine Ressourcen und Fähigkeiten in den Mittelpunkt. Es wird gefragt, wie seine Selbstständigkeit erhalten und gestärkt werden kann und wobei er Hilfe und Unterstützung benötigt. So werden zukünftig nicht nur die klassischen Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität sowie hauswirtschaftliche Versorgung bei der Einschätzung der Pflegebedürftigkeit erfasst. Neu ist, dass die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, die Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen sowie die Gestaltung von Alltagsleben und sozialen Kontakten ebenfalls umfassend berücksichtigt werden.
NACHGEFRAGT UND AUF DEN PUNKT
Paul-Friedrich Loose, Landesgeschäftsführer der Barmer GEK in Sachsen, beantwortet die wichtigsten Fragen zur Neureglung.
Wie wird nach dem neuen System die Pflegebedürftigkeit festgestellt?
Bei der Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) oder unabhängige Gutachterinnen bzw. Gutachter wird zukünftig ermittelt, wie selbstständig eine Person ist. Sechs Lebensbereiche werden dabei gesondert unter die Lupe genommen: Mobilität, Selbstversorgung, Bewältigung von krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen sowie der selbstständige Umgang damit. Weiter werden die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen berücksichtigt. So wird geschaut wie das Alltagsleben des Pflegebedürftigen gestaltet ist und ob soziale Kontakte bestehen. Unter Berücksichtigung aller Fähigkeiten und Beeinträchtigungen erfolgt eine Zuordnung zu einem der neuen fünf Pflegegrade. Damit wird eine differenziertere Einschätzung des Pflegeaufwandes möglich. Bisher gab es lediglich drei Pflegestufen, die sich am Zeitaufwand der Hilfe orientierten.
Wie wird der Pflegegrad nach dem neuen System bestimmt?
Die Zuordnung zu einem der fünf neuen Pflegegrade erfolgt an Hand eines Punktesystems. Dazu werden in den bereits genannten sechs Bereichen Punkte vergeben. Die Anzahl der Punkte orientiert sich daran, wie sehr die Selbständigkeit eingeschränkt ist. Je höher die Punktzahl, desto schwerwiegender die Beeinträchtigung. Innerhalb eines Bereiches wiederum gibt es verschiedene zu berücksichtigende Einzelkriterien. Beispielsweise wird bei der Selbstversorgung nicht nur darauf geschaut ob ein selbständiges Essen und Trinken möglich ist, sondern es wird auch berücksichtigt ob der Betroffene in der Lage ist selbständig einzukaufen und ein Essen zuzubereiten. Alle vergebenen Punkte werden zusammengezählt und gewichtet. Entsprechend ihrer Bedeutung für den Alltag fließen die Ergebnisse aus den einzelnen Bereichen unterschiedlich stark in die Berechnung des Pflegegrades ein. So wird der Bereich "Selbstversorgung" mit 40 Prozent höher als der Bereich "Mobilität" mit 10 Prozent berücksichtigt. Durch diese neue Gewichtung wird es möglich, Beeinträchtigungen der Selbständigkeit von Personen mit körperlichen Defiziten, aber auch von Personen mit kognitiven oder psychischen Defiziten besser einzuschätzen. Die Gesamtpunktzahl beschreibt dann das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit. Daraus wird die Zuordnung für den jeweiligen Pflegegrad abgeleitet.
Welche Leistungen beinhalten die jeweiligen Pflegegrade?
Zu den Leistungen im Pflegegrad eins gehören umfassende Beratungsleistungen. Jeder Betroffene kann eine Pflegeberatung durch speziell geschulte Pflegeberater in Anspruch nehmen. Die Beratung wird durch anerkannte Pflegefachkräfte auf Wunsch in der eigenen Häuslichkeit durchgeführt. Weiterhin können Angehörige Pflegekurse und Individuelle Häusliche Schulungen in Anspruch nehmen. Es erfolgt eine individuelle Versorgung mit Pflegehilfsmitteln. Parallel dazu sind auch Zuschüsse für Maßnahmen der Wohnraumanpassung möglich. Bei vorübergehender vollstationärer Pflege ist weiterhin ein monatlicher Zuschuss in Höhe von bis zu 125,00 Euro möglich. Leben Pflegebedürftige in ambulant betreuten Wohngruppen gibt es einen Wohngruppenzuschlag in einer Höhe von 214,00 Euro monatlich. In den Pflegegraden zwei bis fünf kommen zusätzlich zu den bereits beschriebenen Leistungen des Pflegegrades eins, Pflegesachleistungen, Pflegegeld, Kostenzuschüsse zu Tages- und Nachtpflege, zu vollstationärer Pflege, zu Verhinderungspflege und Kurzzeitpflege hinzu.
Was muss ich tun, um die neuen Pflegeleistungen in Anspruch nehmen zu können?
Für all jene Personen, die zum Zeitpunkt der Einführung des neuen Systems bereits Pflegeleistungen beziehen, greifen gesetzliche Überleitungsregelungen. Keine Sorge, es werden weder eine erneute Antragstellung noch eine erneute Begutachtung erforderlich. In der Übergangsreglung ist ein Bestandsschutz enthalten. Dabei wird sichergestellt, dass niemand geringere Leistungen erhält als zuvor. Als Faustformel gilt: Pflegebedürftige mit vorwiegend körperlichen Einschränkungen steigen automatisch um eine Stufe, also von Pflegestufe eins in Pflegegrad zwei. Pflegebedürftige mit geistigen Einschränkungen steigen um zwei Stufen, also von Pflegestufe zwei mit eingeschränkter Alltagskompetenz in Pflegegrad vier. Durch diese automatische Überleitung wird ein zusätzlicher und unnötiger Aufwand für die Betroffenen vermieden. Tritt ein Pflegefall nach dem 01.01.2017 ein, muss ein Antrag auf Pflegeleistungen gestellt werden. Dieser kann beispielsweise direkt in jeder Barmer GEK Geschäftsstelle oder auch telefonisch gestellt werden. Das Datum des Besuchs oder Anrufs wird als Tag der Antragstellung festgehalten. Der Antragssteller erhält einen Antragsvordruck. Dieser ist ausgefüllt und unterschrieben wieder in der Geschäftsstelle abzugeben oder per Post zu übersenden. Anschließend erfolgt die Begutachtung nach den Kriterien des neuen Systems.
Bisher führte ein höherer Pflegegrad bei stationärer Pflege auch zu einer Erhöhung des Eigenanteils. Bleibt das auch in Zukunft so?
Ab dem 01.01.2017 wird es einheitliche Eigenanteile in den Pflegeheimen geben. Innerhalb einer Einrichtung werden die Eigenanteile aller Bewohnerinnen und Bewohner ab Pflegegrad zwei gleich hoch sein. Praktisch bedeutet das, erhöht sich die Pflegebedürftigkeit und wird ein höherer Pflegegrad erforderlich, führt das bei stationärer Pflege nicht mehr automatisch zu einer Erhöhung des Eigenanteils. Sollte sich nach der neuen Regelung der Eigenanteil für Versicherte, die zum Zeitpunkt der Umstellung bereits in einem Pflegeheim wohnen erhöhen, greift die Übergangsregelung. In diesen Fällen zahlt die Pflegekasse den Differenzbetrag direkt ans Pflegeheim. Damit wird für die Pflegebedürftigen und ihre Familien zukünftig eine bessere Planbarkeit der finanziellen Belastung gewährleistet. Bei den meisten Betroffenen wird die Überleitung in die neuen Pflegegrade jedoch zu höheren Leistungen als heute führen.
Wie verändert sich der Beitrag zur Pflegeversicherung ab 01.01.2017?
Der allgemeine Beitragssatz der Pflegeversicherung erhöht sich ab dem 01.01.2017 um 0,2 Prozentpunkte auf dann 2,55 Prozent bzw. 2,8 Prozent für Kinderlose. Diese Erhöhung wird notwendig, da aufgrund der Änderungen zukünftig mehr Menschen als zuvor Anspruch auf Pflegeleistungen haben werden.
Sonderreglung für Arbeitnehmer in Sachsen
Übersicht Beitragsätze Pflegeversicherung 2017
Zum Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen zur Pflegeversicherung wurde bei Einführung dieses Versicherungszweiges in allen Bundesländern, außer in Sachsen, ein Feiertag gestrichen. Aus diesem Grund gelten hier zum Teil andere Beitragssätze.
STANDORTinfo dankt Herrn Loose für das ausführliche Gespräch.
Das Zweite Pflegestärkungsgesetz: www.barmer.de/s050036
Pflegestärkungsgesetze des Bundesministerium für Gesundheit: http://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/p/pflegestaerkungsgesetz-zweites-psg-ii.html