Die elektronische Patientenakte (ePA) wird mehr und mehr Realität. Seit Januar können Versicherte ihre Akte einrichten und nun fangen Ärzte an, damit zu arbeiten. Seit Juli haben Arztpraxen nämlich begonnen, sich mit der notwendigen Technik auszustatten, die Krankenhäuser kommen zum Jahreswechsel dazu – und damit auch immer mehr Nutzen für die Patienten. Im Interview mit Bérengère Codjo, Barmer Projektmanagerin ePA, werfen wir einen Blick hinter die Kulissen des Prozesses zur Weiterentwicklung der Barmer-eigenen ePA – der eCare.
Mehrwert der Digitalisierung im Gesundheitswesen
Große, aber noch nicht systematisch genutzte Chancen liegen beispielsweise in der zielgerichteten Auswertung von Daten. Datenanalysen und Datenaustausch schaffen Transparenz und tragen damit zur Gesundheit und zum Wohlbefinden der Versicherten, aber auch zu einer patientenzentrierten Behandlung und zu mehr Behandlungssicherheit bei. Mit Hilfe von Algorithmen können wir heutzutage gesundheitliche Probleme oder Komplikationen rechtzeitig erkennen und präventiv handeln. Die digitale Übermittlung von behandlungsrelevanten Informationen, beispielsweise von Befunden, Laborergebnissen, Medikamentenverordnungen, zwischen verschiedenen Leistungserbringenden kann die Versorgung enorm verbessern. Informationslücken bei Entlassungen aus dem Krankenhaus oder auch zwischen Medizinerinnen und Therapeuten im ambulanten Bereich werden geschlossen. Denken wir an eine Patientin, die ein Arzneimittel von Ihrem Hausarzt verordnet bekommt: Zwei Wochen zuvor hat ihre Kardiologin ein Medikament verschrieben, das allerdings gefährlich mit dem neuen interagiert. Weiß der Hausarzt nun vollständig über die bestehende Medikation Bescheid, hilft das dabei, mögliche negative Wechselwirkungen in den Kombinationen früh- und rechtzeitig zu erkennen. Das wäre ein großes Plus für die Sicherheit und die Gesundheit der Patientin.
Eine tragende Säule des Systems ist die gesetzliche Krankenversicherung, bei der 90 Prozent der Deutschen versichert sind. Doch das System braucht dringend ein Update. Denn jeder Sektor funktioniert nach seinen eigenen Regeln, mit eigenen Verwaltungs- und Abrechnungsapparaten – zum Beispiel die ambulante und die stationäre Versorgung, die Reha oder die Pflege. Mittendrin, und manchmal etwas verloren in diesem Komplex: der einzelne Patient. Gute Lösungen zu finden, ist nicht nur für die jeweiligen Patienten wichtig, sondern für das gesamte Gesundheitssystem. Werden innovative Projekte Teil der Regelversorgung, können alle gesetzliche Krankenkassen auch finanziell davon profitieren – und Geld investieren, das an anderen Stellen gut gebraucht werden kann.
Telematikinfrastruktur und elektronische Patientenakte (ePA)
Die zentrale Plattform für eine ganzheitliche Gesundheitsvorsorge wird künftig die elektronische Patientenakte (ePA) sein. Ihr Start am 1. Januar 2021 war ein Meilenstein in der Geschichte des digitalen deutschen Gesundheitswesens. Nicht zuletzt dadurch übernehmen Krankenkassen eine zentrale Aufgabe im Digitalisierungsprozess des Gesundheitswesens. Ihre jeweiligen ePA-Angebote sind es, die die Schnittstelle zwischen der Ärzteschaft und Patientinnen und Patienten zukünftig gestalten werden.
Interview: Nachgefragt – Wird die ePA ein Erfolg?
Die elektronische Patientenakte (ePA) wird mehr und mehr Realität. Seit Januar können Versicherte ihre Akte einrichten und nun fangen Ärzte an, damit zu arbeiten. Seit Juli haben Arztpraxen begonnen, sich mit der notwendigen Technik auszustatten, die Krankenhäuser kommen zum Jahreswechsel dazu – und damit auch immer mehr Nutzen für die Patienten.
Im Interview mit Bérengère Codjo, Barmer Projektmanagerin ePA, werfen wir einen Blick hinter die Kulissen des Prozesses zur Weiterentwicklung der Barmer-eigenen ePA – der „eCare“.
Frau Codjo, nach vielen Jahren Vorlauf scheint mit dem Start der elektronischen Patientenakte nun endlich der Anfang für eine Gesundheitsversorgung mit digitaler Unterstützung gemacht. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz für die Einführung nach knapp einem dreiviertel Jahr aus?
Bérengère Codjo: Zum Start 2021 haben wir wie andere Krankenkassen die elektronische Patientenakte, bei uns unter dem Namen eCare, in ihrer Basisversion herausgebracht. Diese ermöglicht die Ablage von strukturierten Datensätzen wie dem Notfalldatensatz, dem Medikationsplan und dem eArztbrief sowie die Speicherung von medizinischen Dokumenten wie Befunden oder Laborergebnissen. Im März haben wir die digitale Verifizierung eingeführt. Das hat die notwendige Identitätsprüfung und dadurch den Anmeldeprozess für unsere Versicherten deutlich vereinfacht. Seit Juli bieten wir schon eine neue Version der eCare an, mit neuen Zusatzfunktionen und komplett neuem Design. Die eCare entwickelt sich zügig weiter!
Die Ärztinnen und Ärzte sind noch nicht bundesweit angebunden. Warum geht es so langsam voran?
Bérengère Codjo: Die ersten Arztpraxen haben im Juli begonnen, sich mit der notwendigen ePA-Technik auszustatten. Voraussetzung ist, dass sie über die neueste Version des Konnektors und ihres Praxisverwaltungssystems verfügen. Verständlicherweise nimmt der Vorgang etwas Zeit in Anspruch. Wir hoffen, dass so viele Arztpraxen wie möglich sich bis zum Ende des Jahres anschließen werden. Das alles ist auch nur der erste Schritt. Ärztinnen und Ärzte und deren Patienten müssen dann auch lernen, mit diesem neuen Instrument umzugehen und es in ihren Alltag zu integrieren.
Was ist für diesen Prozess des Erlernens und Aneignens notwendig?
Bérengère Codjo: Wir müssen das Design und die Funktionalitäten der Akte zuallererst an den Bedürfnissen der Versicherten orientieren. Die vom Gesetzgeber vorgegebenen standardisierten Dokumente wie der Medikationsplan oder der Notfalldatensatz beinhalten alle wichtige Informationen für die Patientenbehandlung. Aber die ePA kann und soll viel mehr als ein Datenspeicher mit möglichst vielen Datenfeldern werden. Wir wollen über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehen und Zusatzfunktionen zum Bestandteil unserer eCare-App machen.
Dieser Logik folgend bieten wir schon seit Januar den Mediplaner in der eCare an. Basierend auf den Daten aus dem Medikationsplan können Versicherte Einnahme-Erinnerungen für ihre Medikamente einstellen. Quittiert die Nutzerin oder der Nutzer die Einnahme, wird dies entsprechend protokolliert. Das hat den Vorteil, dass man auch im Nachhinein sehen kann, ob eine Tablette eingenommen wurde oder nicht. Das können Versicherte für die rezeptfreien und rezeptpflichtigen Medikamente, die sie in ihrer eigenen Liste erfassen, tun. Um diese zu importieren reicht es, den Packungscode einzuscannen.
In der App lassen sich auch Gesundheitspässe wie den Impf- und den Notfallpass einfach verwalten. Versicherte, die es möchten, können außerdem Gesundheitsnachrichten abrufen. Sie beinhalten Informationen und Tipps für ein gesundes Leben. In den nächsten Jahren werden wir weitere Zusatzfunktionen entwickeln. Wir möchten mit der eCare unsere Versicherten aktiver in ihr Gesundheitsmanagement einbinden.
Das klingt dann doch nach einem echten Aufbruch
Bérengère Codjo: Die Agenda, die der Gesetzgeber gesetzt hat, ist bis 2026 tatsächlich gut gefüllt. Schon ab nächstem Jahr kommen weitere standardisierte Dokumente hinzu: der Impfpass, das Untersuchungsheft für Kinder, das Zahnbonusheft und der Mutterpass. Das ist wichtig, um gleichzeitig den Nutzen und den Nutzerkreis der ePA zu steigern. Denn von der elektronischen Patientenakte sollen alle Versicherten profitieren können. Aus unserer Sicht wird es aber auch entscheidend darauf ankommen, die Funktionen so zu gestalten, dass sie vom Versicherten intuitiv genutzt werden können. Ansonsten ist den Versicherten nicht geholfen.
Inwiefern?
Bérengère Codjo: Nützliche Services gehen mit gutem Design einher. Die zentrale Frage ist nicht nur: Welche Funktion brauchen die Versicherten, sondern auch, ob eine Funktion so ausgestaltet ist, dass sie einfach bedient werden kann? Im Juli ist unsere eCare im kompletten neuen Design erschienen. Die Nutzerführung ist noch klarer und intuitiver. Unser Ziel ist es, die erforderliche Nutzerfreundlichkeit mit den gesetzlichen Vorgaben in Einklang zu bringen.
Können Sie das an einem Beispiel konkretisieren?
Bérengère Codjo: Nehmen wir das Berechtigungsmanagement. Zusätzlich zur Zugriffsfreigabe pro Dokument, das sogenannte feingranulare Berechtigungsmanagement, ist auch eine Freigabe auf der Ebene von Dokumentengruppen für unterschiedliche Gruppen von Ärzten vorgesehen. Das bedeutet, dass die Versicherten entscheiden sollen, dass verschiedene Ärztekategorien unterschiedliche Rechte in ihrer ePA haben. Nutzertests zeigen, dass Versicherte dies nicht nachvollziehen und daher nicht nutzen können. Was aus datenschutzrechtlicher Sicht gut gemeint und völlig gerechtfertigt ist, kann die Nutzerinnen und Nutzer wegen der hohen Komplexität am Ende doch überfordern. Im schlimmsten Fall nutzen sie die App nicht mehr. Wir brauchen mehr Gestaltungsfreiraum, um auf die Bedürfnisse unserer Versicherten eingehen zu können.
Ein weiteres Beispiel ist die Dokumentenverwaltung: Versicherte können Dokumente nicht bearbeiten, die ein Leistungserbringer eingestellt hat. So weit, so gut. Leider können Nutzer einzelne Dokumente, die sie selbst als wichtig erachten, nicht gesondert markieren oder eigene Notizen zu den Dokumenten anlegen und den Ärzten diese bereitstellen.
Wagen Sie eine Prognose: Wird die ePA zu einem Erfolg werden?
Bérengère Codjo: Die elektronische Patientenakte ist ein komplett neues Instrument, auch was ihre Dimensionen angeht. Zum ersten Mal haben wir eine gesamtheitliche Gesundheitsplattform für die Versicherten und alle behandelnden Ärztinnen und Ärzte, Therapeuten und Einrichtungen. Es werden sukzessive weitere Professionen einen Zugang zur ePA bekommen wie Hebammen, Pflegekräfte oder Physiotherapeuten.
Die Versicherten werden erst einmal lernen, wie die digitale Akte sie konkret unterstützen kann: zum Beispiel als chronisch kranker Mensch, der regelmäßig mehrere Fachärzte besucht und mehrere Medikamente gleichzeitig einnimmt, oder als Mensch, der gerade umgezogen ist, eine neue Hausärztin hat und sicherstellen will, dass sie über erfolgte Operationen und Diagnosen informiert ist. Deshalb wird es zunächst unsere Aufgabe sein, unseren Versicherten die elektronische Patientenakte zu erklären und nahezubringen.
Klar ist, dass die Vollintegration der digitalen Patientenakte in den Alltag etwas Zeit in Anspruch nehmen wird. Das sehen wir auch in digitalen Vorreiterländern. Bei einigen hat es bis zu einem merklichen Anstieg der Nutzerzahlen bis zu zehn Jahre gebraucht. Nachdem die ePA im Januar gestartet ist, werden wir ab Juli mit der Anbindung der Ärzte den nächsten wichtigen Schritt gehen können. Als Krankenkasse fokussieren wir uns auf die Aufklärung und die Weiterentwicklung von Mehrwertfunktionen.
Die Akzeptanz ist der Schlüssel zum Erfolg. Und um erfolgreich zu sein, sollten wir immer vom Versicherten aus denken und schnell von Kinderkrankheiten lernen.
Alle Informationen zur ePA finden Sie auch hier: www.barmer.de/a004878.