Dresden, 24.04 2019 – Laut aktuellem Barmer-Arztreport erhielt ein Prozent der sächsischen Bevölkerung, rund 46 000 Menschen, die Diagnose Reizdarm (RDS). Die Dunkelziffer liegt jedoch noch deutlich höher. Viele Betroffene gehen bei Darmbeschwerden aus Scham nicht zum Arzt. Oft leiden sie viele Jahre unter Bauchschmerzen, Krämpfen, Völlegefühl, Durchfall oder Verstopfungen. Immer wieder suchen sie Hilfe bei einem Arzt. Bis zu acht Jahre kann es dauern, ehe die Erkrankung endlich erkannt wird. „Betroffene brauchen eine Therapie, die nicht nur auf die körperlichen Beschwerden fokussiert. Um ihnen die lange Odyssee von Arzt zu Arzt zu ersparen, muss gleich zu Beginn der Behandlung ein ganzheitlicher Blick auf den Körper erfolgen, unter Berücksichtigung der Psyche, Ernährung und Bewegung. Dabei ist eine enge Zusammenarbeit von Haus- und Fachärzten, zertifizierten Ernährungsexperten und Psychotherapeuten notwendig“, sagt Dr. Fabian Magerl, Landesgeschäftsführer der Barmer in Sachsen.
Immer mehr junge Erwachsene betroffen
Wie wichtig das Thema Reizdarmsyndrom ist, belegen die steigenden Betroffenheitszahlen. Allein im Jahr 2017 wurde bei rund einer Million Menschen in Deutschland die Diagnose Reizdarmsyndrom gestellt. Befragungsstudien gehen davon aus, dass diese Form chronischer Verdauungsprobleme noch viel häufiger vorkommt. Erhebungen legen nahe, dass in Deutschland bis zu 16 Prozent, also gut elf Millionen Menschen, der erwachsenen Bevölkerung betroffen sind. Die Diskrepanz ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Erkrankung nach wie vor ein Tabuthema ist. „Wer hier nur an ältere Menschen denkt, der irrt. Immer mehr jüngere Menschen zwischen 23 bis 27 Jahren sind betroffen. Die Zuwachsrate war hier von 2005 bis 2017 mit 70 Prozent am höchsten. Dieser Anstieg ist besorgniserregend“, beschreibt Magerl. Betroffen sind deutlich mehr Frauen als Männer. Bei ihnen nimmt die Zahl mit Eintritt in die Pubertät deutlich zu. Ein erster Häufigkeitsgipfel zeigt sich im Alter von 25 Jahren.
Diagnostik überwiegend beim Hausarzt
In über vier von fünf Fällen (83,4 Prozent) erhielten Betroffene in Sachsen die RDS-Diagnose vom Hausarzt. Bei rund sieben Prozent der Betroffenen stellten Gastroenterologen diese Diagnose, bei 4,4 Prozent Internisten und bei 0,9 Prozent Psychiater und Psychotherapeuten. Bei der Diagnostik kamen oft bildgebende Verfahren, wie Computertomografie (CT) und Magnetresonanztomografie (MRT), mit zweifelhaftem Nutzen und hoher Strahlenbelastung zum Einsatz. Zur Abklärung dieser Art von Beschwerden sind sie nicht explizit vorgesehen.
Einsatz von Medikamenten mit Suchtpotential
In der üblichen Therapie der Betroffenen gibt es laut Arztreport verschiedene zweifelhafte Ansätze, die nicht frei von Risiken sind. Demnach wurden bundesweit den Patientinnen und Patienten häufig Magensäureblocker verordnet. 38,6 Prozent, also rund 400.000 Betroffene, erhielten diese und somit 1,74-mal häufiger als nicht Erkrankte. Der Nutzen bei einem Reizdarmsyndrom ist umstritten. Aber auch opioidhaltige Schmerzmittel wurden vergleichsweise häufig verschrieben und an bundesweit rund 100.000 Patienten und damit immerhin 44 Prozent mehr als in einer Vergleichsgruppe. Hier ist nicht nur die Wirkung fraglich, sondern auch das Risiko einer Medikamentenabhängigkeit gegeben. Daher sollten sie nur dann über einen längeren Zeitraum verordnet werden, wenn eine medizinische Indikation bestehe. „Es ist kritisch zu hinterfragen, ob damit den Menschen wirklich geholfen wird“, mahnt Magerl an.
Ernährung und Essverhalten überprüfen
RDS-Betroffene müssen sich nicht ihrem Schicksal ergeben. „Der Reizdarm ist keine Indikation zur Operation. Eine individuelle und symptomorientierte Ernährung ist essentiell. Oft kann schon eine Ernährungsberatung zu erheblichen Verbesserungen führen. Mit Hilfe eines selbstgeführten Ernährungsprotokolls können Betroffene Lebensmittel, die die Symptomatik auslösen, erkennen und möglichst meiden. Dazu zählen u.a. Kaffee, rohes Obst, Milch und Alkohol“, führt Prof. Arved Weimann, Chefarzt der Klinik für Allgemein, Viszeral- und Onkologische Chirurgie mit Abteilung klinische Ernährung des Klinikums St. Georg aus.
Ursachen für RDS können körperlich und psychisch sein
Aufgrund der Vielfältigkeit der Beschwerden ist eine ganzheitliche, multidisziplinäre Therapie erforderlich. Dazu gehört die Ernährung genauso wie die Psychotherapie oder Bewegung. „‘Sorgen schlagen uns auf den Magen‘, wer ängstlich ist, ‚hat Schiss‘ oder ,macht sich in die Hose‘“, erklärt Dr. Gregor Peikert, praktizierender Psychotherapeut und Präsident der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer den Eingang des Zusammenhangs von Emotionen, psychischen Stress und den Verdauungsorganen in die Alltagssprache. „Die Wissenschaft kennt inzwischen zahlreiche Zusammenhänge zwischen Psyche und Darmfunktion. Einerseits wirkt psychischer Stress in vielfältiger Weise über das vegetative Nervensystem auf die Darmfunktion. Andererseits haben Störungen der Darmfunktion auch Folgen für die Psyche. Bei funktionellen Darmerkrankungen wie dem Reizdarmsyndrom sollten daher bei Diagnostik und Behandlung auch psychische Belastungen oder emotionale Reaktionsmuster beachtet werden. Dies ist besonders dann sinnvoll, wenn das Reizdarmsyndrom über lange Zeit anhält oder die betroffene Person stark belastet und durch medizinische Behandlungen nicht ausreichend gebessert wird. Dann ist es sinnvoll, auch einen Psychotherapeuten in die Behandlung einzubeziehen“, so Peikert weiter. Er gibt den Hinweis, dass Betroffene mit Reizdarmsyndrom, die eine psychotherapeutische Behandlung erwägen, sich direkt bei einem Therapeuten in der psychotherapeutischen Sprechstunde vorstellen können. Das erste Gespräch beim Psychotherapeuten ist in der Regel innerhalb von 4 Wochen möglich.
Regionale Unterschiede
Den Auswertungsergebnissen nach, leiden in Sachsen weniger Menschen an einem RDS-Syndrom als im Bundesdurchschnitt. Bundesweit waren mehr als 1,3 Prozent der Bevölkerung betroffen, sachsenweit jedoch nur rund ein Prozent. Die häufigsten Diagnosen wurden in Baden-Württemberg und dem Saarland, die wenigsten in Sachsen-Anhalt gezählt. Innerhalb Sachsens finden sich die meisten Menschen mit RDS-Syndrom in Nordsachsen und der Stadt Leipzig (rund 1,4% Bevölkerungsanteil). Hier liegen die Betroffenenwerte sogar über dem Bundesdurchschnitt (1,3%). In Chemnitz, Dresden sowie im Leipziger Landkreis finden sich Werte unter dem Bundes-, jedoch über dem Sachsendurchschnitt. Die geringste Betroffenheitsrate findet sich in Görlitz (0,8%). „Gründe für die beobachteten regionalen Unterschiede lassen sich nur schwer abschätzen. So kann unterschiedliches Dokumentationsverhalten von Ärzten, aber auch die unterschiedliche Akzeptanz der Erkrankung an sich, eine Rolle spielen“, so Magerl.