Leipzig (13.04.2016) In Sachsen werden mehr als 170.000 Menschen wegen chronischer Schmerzen behandelt – das sind 4,2 Prozent aller gesetzlich Krankenversicherten. Im Freistaat leiden damit mehr Menschen an dauerhaften Schmerzen als im gesamten Bundesdurchschnitt (4,0 Prozent). Der Anteil der von chronischen Schmerzen Betroffenen hat sich innerhalb von zehn Jahren verdoppelt. Zu diesem Ergebnis kommt der aktuelle Barmer GEK Arztreport, der auf Basis von 8,6 Millionen Versichertendaten zum ersten Mal valide Aussagen zu dieser Volkskrankheit liefert. "Viele Patienten erleben eine Odyssee bis ihnen geholfen werden kann. Es fehlt an einer Vernetzung zwischen den medizinischen Fachgebieten", beschreibt Paul Friedrich Loose, Landesgeschäftsführer der Barmer GEK in Sachsen das Problem und fordert: Die Bekämpfung chronischer Schmerzen sollte angesichts von Millionen Betroffenen in Deutschland zu einem nationalen Gesundheitsziel werden!
Eine durchgängige Versorgungskette ist notwendig
Das bedeute jedoch nicht ein bloßes Mehr an Strukturen und Ärzten. "Wir brauchen eine durchgängige Versorgungskette, beginnend beim Hausarzt als Lotsen, bis hin zu einer gezielten multimodalen Schmerztherapie. Chronischer Schmerz ist eine eigenständige Erkrankung, die sehr spezifisch behandelt werden muss. Beispielsweise bekommen Betroffene 70 Prozent mehr Medikamente als gleichaltrige Patienten", beruft sich Loose auf den Arztreport. In Sachsen gibt es, laut Kassenärztlicher Vereinigung Sachsen, 101 niedergelassene Ärzte mit der Spezialisierung für schmerztherapeutische Behandlungen. Es besteht grundsätzlich die Möglichkeit der Fortbildung als spezialisierter Schmerztherapeut für alle Ärzte.
Lange Schmerzkarrieren – ein Leidensweg
In Sachsen haben im Jahr 2014 bezogen auf 100.000 Einwohner 79 Patienten eine multimodale Schmerztherapie erhalten – bundesweit waren es 75 je 100.000 Einwohner. "Wir unterstützen die Bemühungen der medizinischen Fachgesellschaften, verbindliche Qualitätskriterien für die multimodale Schmerztherapie im Krankenhaus zu entwickeln", so Loose. Eine multimodale Schmerztherapie verfolgt den bio-psycho-sozialen Ansatz und gilt als besonders erfolgversprechend. Dabei werden mehrere Fachdisziplinen einbezogen, darunter Physio-, Ergo- sowie Psychotherapie. Professor Dr. med. Rainer Sabatowski, Leiter des UniversitätsSchmerzCentrums, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, TU Dresden, kennt die "Schmerzkarrieren" vieler Patienten: "Obwohl in Deutschland bezüglich der Akzeptanz und Ausbreitung/Entwicklung der multimodalen Schmerztherapie insgesamt ein positives Resümee gezogen werden kann, gibt es auch problematische Aspekte. Diese umfassen u.a. sowohl die bislang fehlende Standardisierung der therapeutischen Ansätze als auch das einheitliche konzeptuelle und strukturelle Verständnis der multimodalen Therapie als solche. Entsprechend unterscheiden sich die Einrichtungen in ihrer Arbeit und Qualität zum Teil erheblich, was damit verbunden ist, dass das Label "multimodal" häufig genutzt wird, ohne dass die grundlegenden Konzepte nachweislich umgesetzt werden," beschreibt er die aktuelle Situation. Derzeit wird die multimodale Schmerztherapie überwiegend im stationären Setting erbracht. Nur cirka 10 Prozent der Leistungen finden tagesklinisch statt. "Ambulante Versorgungsstrukturen, die diese Behandlungskonzeption inhaltlich und strukturell abbilden, fehlen überwiegend. Auch gibt es derzeit keine Konzepte, die die Therapieinhalte und -intensitäten in Bezug auf das Ausmaß der Schmerzchronifizierung berücksichtigen", so Sabatowski.
Folgeerkrankungen und Gefahr von Polypharmazie
Die Patienten sind massiv in ihrer Lebensqualität eingeschränkt und häufig von einer Vielzahl an Erkrankungen betroffen. Sehr häufig ist ihr Alltag geprägt von Rückenschmerzen, Krankheiten der Wirbelsäule, einer Arthrose des Kniegelenks oder auch kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen und Bluthochdruck. Deshalb bekommen Schmerzpatienten auch 70 Prozent mehr Arzneimittel verordnet. "Im Durchschnitt erhalten sie Tag für Tag 4 bis 5 Medikamente, Patienten älter als 65 Jahre sogar mehr als 10 Medikamente", verweist Loose auf das Problem der Polypharmazie. Insbesondere bei älteren Schmerzpatienten sind auch immer wieder ungewollte Wechselwirkungen der verabreichten Medikamente zu beobachten. "Uns als Krankenkasse geht es darum, die medizinische Versorgung von Patienten mit Chronischen Schmerzen so zu verändern, dass sie deren spezifischen Bedürfnissen entspricht", sagt Loose.
Schmerzen als Volkskrankheit?
Chronische Schmerzen sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Weitaus mehr Menschen leiden unter gelegentlichen Schmerzen. So wurde fast jeder zweite Versicherte (mehr als 46 Prozent aller Versicherten) im Jahr 2014 mindestens einmal vom Haus- oder Facharzt wegen direktem Schmerzbezug behandelt. In Sachsen waren von 100.000 Einwohner 969 betroffen. Wobei der Anteil der Frauen mit 55 Prozent den Anteil der Männer (37 Prozent) erheblich übersteigt. Mit dieser Studie der Barmer GEK liegen hochaktuelle Daten zur Schmerzversorgung in Deutschland und in Sachsen vor. Sie zeigen deutlich, dass die Versorgung der Patienten mit chronischen Schmerzen dringend verbessert werden muss. Chronische Schmerzen und der möglicher Schmerzmittelfehlgebrauch führt nicht nur häufig zu schweren gesundheitliche Folgeschäden, sondern oft auch zum sozialen Rückzug, zur Invalidisierung und zu großen familiären und partnerschaftlichen Problemen. Das ganze Umfeld leidet mit.