Leipzig, 22. November 2018 – Die Familie, Deutschlands größter Pflegedienst, pflegt mit großem Engagement ihre Angehörigen. In zwei Drittel aller Fälle übernehmen Frauen im Alter zwischen 50 bis 70 Jahren die Pflege. Einige schaffen das neben dem eigentlichen Beruf, aber rund ein Viertel verkürzen ihre Arbeitszeit oder geben Ihren Beruf für die Vollzeitpflege eines Angehörigen auf. In Sachsen leben rund 150.000 Menschen, also mehr als 70 Prozent aller Pflegebedürftigen, zuhause und werden mehrheitlich von pflegenden Angehörigen umsorgt. Für die Angehörigen bedeutet das große Verantwortung und viel Arbeit. „Die pflegenden Familienmitglieder sind ein sehr wichtiger Pfeiler unseres Pflegesystems. Mit Ihrer Motivation aus Liebe und Pflichtbewusstsein leisten sie in der Gesellschaft einen unschätzbaren Dienst. Oft jedoch kommen dabei ihre eigenen Bedürfnisse zu kurz und sie werden krank“, beschreibt Dr.-Doktor Fabian Magerl, Landesgeschäftsführer der Barmer in Sachsen, die Problemlage. Die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von rund 2.000 pflegenden Angehörigen im aktuellen BARMER Pflegereport zeigen deutliche Alarmsignale: Allein in Sachsen sind nach Hochrechnung der Barmer mehr als 11.000 Angehörige von der Pflege erschöpft und am Ende ihrer Kräfte. Sie stehen kurz davor, ihren Dienst einzustellen.
Leben in der eigenen Häuslichkeit bleibt Favorit
Eine große Anzahl von Menschen lebt trotz ihrer Pflegbedürftigkeit in der eigenen Häuslichkeit, in Sachsen sind es mehr als 70 Prozent der Bedürftigen. Etwa 30 Prozent von Ihnen werden durch einen ambulanten Pflegedienst betreut, rund 43 Prozent erhalten Pflegegeld. Meist stehen ihnen Angehörigen oder Bekannten pflegend zur Seite. „Durchschnittlich beansprucht die Pflege täglich zwölf Stunden und dauert rund zwei Jahre. Für die Pflegenden ist dieser Einsatz oftmals eine hohe körperliche und psychische Belastung und stellt Betroffene vor große organisatorische Herausforderungen“, beschreibt Steffen Lemme, Landesgeschäftsführer der Volkssolidarität in Sachsen, das ihm bekannte Problem der Überforderung von pflegenden Angehörigen.
Pflege bestimmt bei 85 Prozent der Betroffenen tagtäglich das Leben
Die Pflege in Deutschland wird überwiegend von Frauen getragen. Laut Pflegereport gibt es in Deutschland rund 2,5 Millionen pflegende Angehörige, darunter rund 1,65 Millionen Frauen. Nur ein Drittel aller Betroffenen geht arbeiten, jeder Vierte hat seine Arbeit aufgrund der Pflege reduziert oder ganz aufgeben müssen. „Es stimmt: Als Angehörige kommt man recht schnell an seine Grenzen. Stehen doch auf einmal die eigenen Eltern im Mittelpunkt des Familienlebens. Das bedeutete für uns, dass wir den gesamten Alltag neu strukturieren und eng takten mussten. Da kamen Ruhephasen kaum vor und die Kontakte zu Freunden und Bekannten viel zu kurz“, beschreibt Martina Band, mehrere Jahre betreute sie ihre Schwiegereltern in Leipzig. So wie ihr geht es den meisten. Fast 40 Prozent von ihnen fehlt Schlaf, 30 Prozent fühlen sich in ihrer Rolle als Pflegende gefangen, und jedem Fünften ist die Pflege eigentlich zu anstrengend.
Belastung schlägt sich auch auf die Gesundheit
Dauerhafte Belastung und hoher Verantwortungsdruck schlagen auf die Gesundheit. Pflegende Angehörige sind vergleichsweise häufiger krank als andere. So leiden in Sachsen mehr als die Hälfte (60 Prozent) von ihnen unter Rückenbeschwerden und bis zu 45 Prozent unter psychischen Störungen. Bei Personen, die niemanden pflegen, trifft dies nur auf rund 50 Prozent beziehungsweise 30 Prozent zu. Je kränker und belasteter Angehörige in der Pflege sind, desto eher informieren sie sich über Unterstützungsmöglichkeiten. So sind es bei guter Gesundheit rund 70 Prozent, die die Entlastung durch Kurzzeitpflege nicht kennen oder keinen Bedarf dafür haben. Ist die Gesundheit schlechter, sinkt dieser Prozentsatz auf 58 Prozent. Dabei sollte Hilfe so früh wie möglich genutzt werden, denn dann wirkt sie am besten. Dazu sei nicht nur eine umfassende, frühzeitige Beratung durch Pflegeexperten wichtig, sondern auch ein niedrigschwelliger Zugang zu den Unterstützungsleistungen. „Dabei ist es wichtig, dass Pflegepersonen nicht nur für ihren Angehörigen, sondern auch für sich selbst Hilfe bekommen. Um ihnen den Alltag zu erleichtern, bietet die Barmer für ihre Versicherten kostenlos das Seminar „Ich pflege – auch mich“ an. In mehreren Modulen lernen die Teilnehmer unter anderem, wie sie sich trotz der anstrengenden Pflegesituation entlasten können“, so Magerl.
Hilfsangebote aus Qualitäts- und Kostengründen nicht genutzt
60 Prozent der pflegenden Angehörigen wünschen sich Unterstützung bei der Pflege. Dennoch wurden Kurzzeit-, Tagespflege oder Betreuungs- und Haushaltshilfen eher selten in Anspruch genommen. "Wir stellen in unseren Einrichtungen verschiedenen Angebote zur Verfügung. Besonders häufig werden Kurzzeit- und Tagespflege nachgefragt. Allerdings beobachten wir, dass die Vielfalt an Angeboten und die Ansprüche, die die Betroffenen haben, diesen nicht bekannt sind", beschreibt Lemme. "Die Leute müssen zunächst Beratung erfahren, um sich in diesem Pflege-Dschungel zurechtzufinden." Die vergleichbar seltene Inanspruchnahme wird von den Befragten neben dem fehlenden Angebot hauptsächlich mit Zweifeln an der Qualität und den Kosten begründet. „Es ist alarmierend, dass fast jeder fünfte der pflegenden Angehörigen Zukunfts- und Existenzängste hat. Deshalb ist es auch richtig, dass die Bundesregierung die Kurzzeit- und Verhinderungspflege in einem jährlichen Entlastungsbudget für Pflegebedürftige zusammenführen möchte“, sagte Magerl. Aus Sicht der Barmer sollten die Entlastungsleistungen von aktuell 125 Euro monatlich ebenfalls in ein jährliches Entlastungsbudget einbezogen werden. Damit könnten auch die Eigenanteile zum Beispiel für einen Aufenthalt in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung deutlich reduziert werden. „Wir begrüßen zudem, dass eine weitere Erleichterung für Pflegebedürftige ab Pflegegrad drei geplant ist. Künftig soll für Krankenfahrten zum Arzt für diese Schwerkranken keine Genehmigung der Krankenkasse mehr nötig sein. Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung Entbürokratisierung“, betonte Magerl.