Halle/Magdeburg, 24. Oktober 2019 – In Sachsen-Anhalt treten immer weniger Beschäftigte ihren Arbeitstag ausgeschlafen an. Während im Jahr 2005 nur 16 pro 1000 Erwerbspersonen unter ärztlich attestierten Ein- und Durchschlafstörungen litten, waren es im Jahr 2017 bereits 27. Das entspricht einem Anstieg von 69 Prozent – zwischen Arendsee und Zeitz sind damit inzwischen mehr als 27.000 Frauen und Männer wegen Ein- und Durchschlafstörungen in Behandlung. Dabei dürfte die Dunkelziffer der Betroffenen noch deutlich höher liegen, da nicht einmal jeder Zweite zum Arzt geht, wenn er nicht richtig schlafen kann. Die Angaben gehen aus dem neuen Barmer-Gesundheitsreport hervor.
„Anhaltender Schlafmangel macht krank. Das kann das Familienleben erheblich beeinträchtigen und genauso die Berufswelt. Denn wer nicht ausgeruht ist, kann sich schlechter konzentrieren. In der Folge erhöht sich die Fehlerquote. Im schlimmsten Fall sind unausgeschlafene Beschäftigte sogar ein Sicherheitsrisiko, etwa dann, wenn sie einen LKW fahren oder große Maschinen bedienen“, sagte Axel Wiedemann, Landesgeschäftsführer der Barmer in Sachsen-Anhalt, bei der Präsentation der Ergebnisse am Donnerstag. Er fordert mehr Prävention in Bezug auf Schlafstörungen in Schule und Beruf sowie eine stärkere Berücksichtigung von Schlafstörungen in der Ausbildung von Ärzten, Therapeuten und Angehörigen anderer Gesundheitsberufe.
36 Ausfalltage mehr als Beschäftigte ohne Schlafstörungen
Etwa die Hälfte der Sachsen-Anhalter (49,1 Prozent) meinen, dass sie zu wenig Schlaf bekommen. Erwerbstätige mit Schlafstörungen fallen zudem sehr lange aus. Zum Vergleich: Beschäftigte mit Diagnosen von Ein- und Durchschlafstörungen waren im Jahr 2017 durchschnittlich 56 Tage arbeitsunfähig gemeldet, 36 Tage mehr als ihre ausgeschlafenen Kollegen. Dabei führt insbesondere die Kombination von Schlafstörungen und einer psychischen Grunderkrankung zu einer signifikanten Erhöhung der Fehltage. Frauen sind von Schlafstörungen deutlich häufiger betroffen als Männer. „Im Bundesvergleich schneidet Sachsen-Anhalt zwar verhältnismäßig gut ab – im ‚Land der Frühaufsteher‘ sollte uns die starke Zunahme von Einschlaf- und Durchschlafproblemen jedoch zu denken geben. Die Auswirkungen von Schlafstörungen auf die Gesundheit und das Leistungsvermögen von Beschäftigten werden bislang drastisch unterschätzt“, sagte Wiedemann.
Schlafdefizit führt zu Fehlentwicklungen
Dr. Steffen Schädlich, Schlafmediziner und Leitender Oberarzt der Klinik für Innere Medizin II am Krankenhaus Martha-Maria Halle-Dölau, plädiert für ein bewusstes Innehalten. „Unsere Gesellschaft ist auf Optimierung und Maximierung ausgelegt. Alles muss immer schneller, besser und billiger werden. Wir wollen immer mehr in immer kürzerer Zeit. So schön eine Weiterentwicklung auch ist, führt dies aber unweigerlich zu fatalen Fehlentwicklungen. Das hier aufgedeckte zunehmende Problem von Schlafstörungen macht dies deutlich“, sagte er. Die Fehler würden auf der Hand liegen. „Wir schlafen immer kürzer. Wir gehen immer später ins Bett. Wir ignorieren immer mehr die Taktgeber der Natur. Wir ge- beziehungsweise missbrauchen immer mehr Medien mit künstlichem Licht, Displays und lauten akustischen Reizen“, so Schädlich. Dies führe zu einem Schlafdefizit. „Die Folgen sind Müdigkeit und Schläfrigkeit, die im schlimmsten Fall zu Unfällen im Straßenverkehr oder im Arbeitsleben führen.“ Das bekannteste Beispiel hierfür sei die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986.
Hausärzte sollten nicht einfach nur Schlaftabletten aufschreiben
Doch nicht nur akute Schläfrigkeit beeinträchtigt die Gesundheit, auch chronische Defizite beeinflussen das Wohlbefinden. Besonders Herz-Kreislauferkrankungen und psychische Störungen wie eine Depression können die Folge sein. „Neuere Daten erwecken den Eindruck, dass zu wenig gesunder und erholsamer Schlaf auch Tumorerkrankungen begünstigt und die Widerstandskraft im Allgemeinen schwächt“, sagte Schädlich. Ein- und Durchschlafstörungen seien inzwischen sehr weit verbreitet. Praktisch habe schon jeder einmal nicht einschlafen können, dies sei jedoch noch keine Krankheit, stellt der Schlafmediziner klar. „Wenn aber diesen Beschwerden keine Aufmerksamkeit geschenkt wird, kann es zu chronischen und dann auch schwer behandelbaren Erkrankungen führen. Bereits Hausärzte sollten diesem Klagen Beachtung schenken und nicht einfach nur ein paar Schlaftabletten aufschreiben“, sagte Schädlich.
Acht Stunden für das Bett reservieren
Der normale Durchschnitts-Erwachsene braucht etwas mehr als sieben Stunden Schlaf pro Tag. Da man nicht sofort einschläft, manchmal kurz wach wird und andere Ablenkungen vorkommen können, sollte man deshalb mindestens acht Stunden für das Bett reservieren, rät der Schlafmediziner. „Jeder Mensch, der sich weniger Zeit nimmt, geht fahrlässig mit seiner Gesundheit um! Wir müssen endlich begreifen, dass der Schlaf genauso wichtig ist wie Essen und Trinken“, so Schädlich. Dem Schlaf gebühre mehr Aufmerksamkeit. „Wir müssen achtsam mit ihm umgehen. Schlaf ist keine unnütze oder vertane Zeit. Auch im 21. Jahrhundert lässt er sich nicht optimieren oder künstlich verbessern“, sagte Schädlich.
Schlafkiller Schichtarbeit – ein Leben gegen den Rhythmus
Beschäftigte im Schichtdienst leben oft entgegen einem natürlichen Schlaf-Wach-Rhythmus. Sie arbeiten, wenn der Körper normalerweise schläft, und (sollen) schlafen, wenn er eigentlich auf Aktivität eingestellt ist. Das führt oft zu erheblichen Ein- und Durchschlafstörungen. Das mit Abstand größte Risiko unter den Beschäftigten haben Bus- und Straßenbahnfahrer, gefolgt von Maschinen- und Anlagenführen. Auch Beschäftigungen im Objekt-, Werte- und Personenschutz sowie Tätigkeiten in Callcentern bergen nach Analysen des Barmer-Reports ein großes Risiko für diese Störungen. In den genannten Berufen kommt Schicht- und Nachtarbeit vergleichsweise häufig vor. Das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Adipositas, Typ-2-Diabetes oder Depressionen kann sich durch Schichtarbeit erhöhen. „Die Arbeitszeiten in bestimmten Berufsfeldern werden stark von den Wünschen und Bedürfnissen der Verbraucher und Nutzer bestimmt. Nacht- und Schichtarbeit wird es zukünftig wohl häufiger und in noch mehr Berufsbranchen geben. Umso wichtiger ist es, dass Arbeitgeber rechtzeitig geeignete Maßnahmen ergreifen, um die Gesundheit der Beschäftigten zu fördern“, so Wiedemann.
Hallenser stärker betroffen, differenziertes Bild in der Altmark
Schaut man auf die Diagnosen, schlafen die Sachsen-Anhalter im bundesweiten Vergleich insgesamt besser als Beschäftigte in anderen Regionen Deutschlands. Es gibt jedoch regionale Unterschiede. Bei Beschäftigten in Halle (30 Betroffene pro 1000 Beschäftigte), im Landkreis Börde (30) und im Salzlandkreis (30) diagnostizierten Mediziner am häufigsten Ein- und Durchschlafstörungen (Mittelwert 2015 bis 2017). In Dessau-Roßlau (21), im Altmarkkreis Salzwedel (22) und im Landkreis Mansfeld-Südharz (20) waren es die wenigsten. Der Landkreis Stendal liegt im Mittelfeld (27).