Magdeburg, 9. April 2019 – Mehr als 23.000 Sachsen-Anhalter haben im Jahr 2017 die Diagnose Reizdarm erhalten. Das geht aus dem aktuellen Barmer-Arztreport 2019 hervor. „Diese Zahl ist nur die Spitze des Eisbergs. Zahlreiche Betroffene meiden bei Symptomen wie Durchfall, Krämpfen oder Verstopfung aus Scham den Gang zum Arzt. Erhebungen legen nahe, dass die Dunkelziffer der Erwachsenen mit Reizdarmsyndrom zehnmal höher sein könnte. In Sachsen-Anhalt dürften mehr als 200.000 Menschen Probleme mit Reizdarm haben. Diese große Diskrepanz zeigt, dass die Erkrankung nach wie vor ein Tabuthema ist“, sagte Axel Wiedemann, Landesgeschäftsführer der Barmer in Sachsen-Anhalt, bei der Vorstellung des Arztreports am Dienstag in Magdeburg.
In Sachsen-Anhalt lässt sich bei der Diagnose ein Stadt-Land-Gefälle feststellen. Die meisten Betroffenen leben in den Städten Halle (Saale), Magdeburg und Dessau-Roßlau. Im Altmarkkreis Salzwedel leiden die wenigsten Menschen an dieser Erkrankung, dort werden die Bundeswerte um 53 Prozent unterschritten.
Auffällig ist, dass überall zunehmend jüngere Menschen am Reizdarmsyndrom erkranken. Die Zahl der Betroffenen im Alter von 23 bis einschließlich 27 Jahre ist zwischen den Jahren 2005 und 2017 bundesweit von knapp 40.000 auf rund 68.000 gestiegen. Das ist ein Plus von 70 Prozent. „Dieser Zuwachs ist besorgniserregend. Die jüngere Generation signalisiert offensichtlich eine Belastung, die kritisch angeschaut werden sollte“, sagte Wiedemann. Möglicherweise lasse sich das Plus aber auch mit einer gestiegenen Bereitschaft zur ärztlichen Begutachtung der oft tabuisierten Beschwerden erklären. „Das wäre angesichts der insgesamt negativen Entwicklung dann immerhin ein positiver Begleiteffekt“, so Wiedemann.
Durchfall, Verstopfungen, Blähungen
Die Ursachen für die Entstehung von Beschwerden im Sinne des Reizdarmsyndroms (RDS) sind bislang unklar. Die Anzeichen der Erkrankung sind oft sehr unspezifisch: Betroffene klagen häufig über Bauchschmerzen sowie Symptome wie Durchfall, Verstopfungen und Blähungen. Das RDS wird außerdem gehäuft im Zusammenhang mit somatoformen und psychischen Störungen beobachtet. Frauen sind doppelt so häufig vom Reizdarmsyndrom betroffen wie Männer. „Menschen mit Reizdarmsyndrom fühlen sich nicht selten in ihrem Alltag eingeschränkt. Alleine der Weg zur Arbeit, ein Treffen mit Freunden, ein Restaurant- oder ein Kinobesuch können sehr belastend sein“, sagte Wiedemann.
Die RDS-Diagnose kann meist erst nach Ausschluss anderer Ursachen gestellt werden. Dabei sollen weder bestimmte Infektionen noch entzündliche Erkrankungen, definierte Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder anatomisch fassbare Veränderungen im Magen-Darm-Trakt verantwortlich gemacht werden können. „Aus diesem Grund durchleiden die Betroffenen oftmals eine wahre Arzt-Odyssee, bis sie letztlich die Diagnose erhalten“, sagte Prof. Dr. med. Ali Canbay, Klinikdirektor der Universitätsklinik Magdeburg für Gastroenterologie, Hepatologie und Infektiologie. Sein Team behandelt pro Jahr Hunderte Frauen und Männer mit Reizdarmsyndrom. „Viele Patienten sind aufgrund der fortwährenden Symptome beunruhigt. Wichtig ist deshalb ein Mix aus ausführlicher Anamnese, Medikamentenanamnese und körperlichen Untersuchungen. Es ist ein gemeinsames Herantasten mit dem Patienten. Die eine Therapie gibt es leider nicht“, sagte Canbay.
Zu oft CT und MRT
Aufgrund der Vielfältigkeit der Beschwerden ist es oftmals schwierig, die Erkrankung entsprechend zu diagnostizieren. Häufig wird mit bildgebenden Verfahren wie einer Magnetresonanztomografie (MRT) oder einer Computertomografie (CT) nach der Diagnose gesucht. Es droht die Gefahr, dass diese zu oft durchgeführt werden. Im Jahr 2017 haben bundesweit mehr als 130.000 Reizdarm-Patienten Computertomografien (CT) und mehr als 200.000 Betroffene Magnetresonanztomografien (MRT) erhalten, obwohl sie bei dieser Diagnose von zweifelhaftem Nutzen sind. „Menschen mit Reizdarmsyndrom leiden nicht an einer rein körperlichen Erkrankung. Das muss bei Diagnostik und Therapie stärker berücksichtigt werden“, sagte Wiedemann. Nötig sei ein multidisziplinärer Behandlungsansatz, schließlich sei nicht allein der Darm das Problem. „Bei der Behandlung des Reizdarmsyndroms ist es besonders wichtig, den ganzheitlichen Blick auf Körper und Geist zu richten. Auch eine reine Gabe von Medikamenten ist der falsche Ansatz“, so der Landesgeschäftsführer der Barmer. Patientinnen und Patienten würden zu häufig Protonenpumpenhemmer, umgangssprachlich Magensäureblocker, verordnet. Der Nutzen bei einem Reizdarmsyndrom sei jedoch umstritten.
Behandlung hängt von den Symptomen ab
Die Behandlung funktioneller Magen-Darm-Erkrankungen erfolgt an der Uniklinik Magdeburg auf drei Wegen: Allgemeinmaßnahmen (Aufklärung über das Krankheitsbild und die Ursachen der Beschwerden, Ernährungsumstellung), psychosomatische Grundversorgung und Psychotherapie sowie medikamentöse Behandlung. Letztere wird anhand der Symptome ausgerichtet: Bei Blähungen sind Bewegung, Diät und auch die medikamentöse Therapie mit Simetikum, Probiotika sowie einem nicht resorbierbaren Antibiotikum ratsam. Bei Bauchschmerzen werden Spasmolytika, Probiotika, Phytotherapie (z. B. mit Iberogast) und auch Antidepressiva empfohlen. Bei Verstopfungen sollte faserreiche Kost sowie Laxanthien und bei Durchfall Opioide, Probiotika und eventuell auch Colestyramin eingenommen werden. „Die Entwicklung der Krankheit ist beim Reizdarmsyndrom multifaktoriell. Es gibt angeborene Faktoren, Umweltfaktoren und immunologische Faktoren. Außerdem wird die Krankheit auch durch die Psyche moduliert. Deshalb ist es so wichtig, eine symptomorientierte Therapie zu wählen“, sagte Canbay.
Reizdarmsyndrom ist kein reines Westproblem
Sachsen-Anhalt hat im bundesweiten Vergleich pro 100.000 Einwohner die wenigsten Betroffenen mit Reizdarmsyndrom. Dass RDS vor allem ein Westproblem ist, bestreitet Canbay, der selbst mehrere Jahre in Nordrhein-Westfalen gearbeitet hat, jedoch. „Es gibt beim Reizdarmsyndrom kein Ost-West-Gefälle. Die Dunkelziffer ist überall hoch. Eine Erklärung für die Zahlen könnte sein, dass es in Ballungsgebieten mehr Ärzte gibt. Dort nehmen Patienten die Versorgung dann auch öfter in Anspruch“, sagte Canbay.