Halle/Magdeburg, 2. Oktober 2020 – Nur 29 Prozent der Krankenhauspatienten über 65 Jahre, die regelmäßig fünf oder mehr Medikamente einnehmen, haben bei der Aufnahme in eine Klinik den vorgesehenen bundeseinheitlichen Medikationsplan. 17 Prozent der sogenannten Polypharmazie-Patienten verfügen über gar keine aktuelle Aufstellung ihrer Medikamente. „Das kann lebensgefährlich sein. Ein Medikationsplan soll verhindern, dass Patientinnen und Patienten aufgrund von Informationsdefiziten zu Schaden kommen. Wer zugleich mindestens drei verordnete Arzneimittel einnimmt, sollte von seinen Ärzten die Erstellung eines Medikationsplanes einfordern“, sagte Axel Wiedemann, Landesgeschäftsführer der Barmer in Sachsen-Anhalt, bei der Vorstellung des neuen Barmer-Arzneimittelreports 2020 in Halle. Immerhin 54 Prozent der 2900 für den Report befragten, über 65-jährigen Polypharmazie-Patienten haben zwar einen Medikationsplan, jedoch nicht den bundeseinheitlichen, der auch digital mit einem QR-Code ausgelesen werden kann. Insbesondere beim Übergang zwischen dem ambulanten und stationären Bereich kann das problematisch sein. „Patientinnen und Patienten sind unnötigen Risiken ausgesetzt, wenn wichtige Informationen nicht oder nur lückenhaft übermittelt werden. Es ist unverständlich, dass die Aufnahme in ein Krankenhaus als hunderttausendfacher Prozess so fehleranfällig ist“, sagte Wiedemann.
Mehr Polypharmazie-Patienten nach Krankenhausaufenthalt im Land
Doch nicht nur beim Übergang von ambulant zu stationär hakt es – bedenklich ist auch, dass jeder dritte Patient mit geänderter Therapie nach der Behandlung vom Krankenhaus keinen aktualisierten Medikationsplan erhält. Dabei erhöht sich der Anteil an Polypharmazie-Patienten nach einem stationären Aufenthalt in Sachsen-Anhalt signifikant: Während der Anteil von Polypharmazie-Patienten unmittelbar vor der Krankenhausaufnahme im Jahr 2017 bei 32,1 Prozent lag, waren es nach der Behandlung 39,8 Prozent – das entspricht insgesamt rund 123.000 Patientinnen und Patienten. „Sachsen-Anhalts Bevölkerung ist mit durchschnittlich 47,8 Jahren die älteste in ganz Deutschland, deswegen sehen wir hier besonderen Optimierungsbedarf“, sagte Wiedemann. Bereits jetzt sei mehr als die Hälfte der in Krankenhäusern behandelten Patienten 65 Jahre und älter. Mit zunehmendem Alter steige für viele Menschen die Anzahl an verordneten Medikamenten. „Es wird künftig noch mehr Patienten mit Polypharmazie geben, die im Krankenhaus behandelt werden. Deshalb gilt es jetzt, nachzubessern, um die Risiken für Patienten auf ein Minimum zu beschränken und die Arbeit der Ärzte zu erleichtern. Wie appellieren an die Ärzteschaft, den 2016 eingeführten bundeseinheitlichen Medikationsplan endlich auch umfassend anzuwenden“, sagte Wiedemann. Patienten haben Anspruch auf den bundeseinheitlichen Medikationsplan, wenn sie mindestens drei verordnete Arzneimittel gleichzeitig einnehmen.
Apotheker stehen Patienten beratend zur Seite
Neben der Dauertherapie von Polypharmazie-Patienten muss auch die Selbstmedikation zwingend mitberücksichtigt werden. Häufig kennt nur die Stammapotheke alle Arzneimittel – einschließlich der selbst gekauften Medikamente, die ein Patient besitzt und anwendet. Mit zunehmender Präparatezahl steigt jedoch das Risiko für unerwünschte Arzneimittelereignisse. Diese sind für etwa fünf Prozent aller Krankenhausaufenthalte verantwortlich. Bei geriatrischen Patienten sind es sogar bis zu 30 Prozent. Zwei Drittel dieser Fälle gelten als vermeidbar. „Wir beobachten, dass fast jeder zweite Patient seine Arzneimittel nicht oder nicht richtig einnimmt. Das muss mit dem Patienten im Gespräch geklärt werden“, sagte Mathias Arnold, Vizepräsident Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände und Vorsitzender des Landesapothekerverbandes Sachsen-Anhalt e.V. „Ist der Patient unsicher hinsichtlich seiner Dosierung oder liegen Anzeichen auf mögliche Neben- oder Wechselwirkungen vor, versuchen wir im Kontakt mit dem behandelnden Arzt das Problem zu klären“, so Arnold. Liege dem Apotheker ein Medikationsplan vor, könne anhand dieser Übersicht eine bessere Therapietreue erreicht werden. „Die Medikationsliste ist für den Patienten eine wertvolle Hilfe bei der richtigen Arzneimittelanwendung und für den Arzt wichtige Informationsquelle, die ihn bei seiner Arbeit unterstützen und entlasten kann. Um aktuell zu sein, muss dieser Medikationsplan am besten bei jeder Arzneimittelabgabe durch die Apotheke aktualisiert werden“, sagte Arnold. Durch die umfassende Medikationsanalyse könnten die Apotheker ihren Beitrag zur Erhöhung der Arzneimitteltherapiesicherheit der Patienten leisten. „Eine solche Medikationsanalyse sollte als honorierte pharmazeutische Leistung in allen Apotheken eingeführt werden. Das aktuelle Gesetzgebungsverfahren zu einem Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz (VOASG) soll hierfür die gesetzlichen Grundlagen schaffen“, so Arnold.
Digitale Lösung mit der elektronischen Patientenakte?
Ein Instrument für mehr Sicherheit und Transparenz in der Arzneimitteltherapie kann die elektronische Patientenakte (ePA) sein, die alle gesetzlich Krankenversicherten ab Januar 2021 freiwillig nutzen können. „Jeder Patient, der von seinem Arzt einen bundeseinheitlichen Medikationsplan bekommen hat, hat das Recht darauf, ihn von seinem Arzt in die ePA einstellen zu lassen. Das gilt auch für Notfalldatensätze und Arztbriefe. Präzise Informationen stehen dann bei der Krankenhauseinweisung zur Verfügung. Die Indikationsprüfung sowie die Prüfung auf Nebenwirkungen wird dadurch vereinfacht“, sagte Barmer-Landeschef Wiedemann. Auch Krankenhausärzte können, sofern die Patienten dies wünschen, in der ePA ihre Therapieentscheidungen dokumentieren. Diese Informationen stehen Haus- bzw. Fachärzten nach der Entlassung zur Verfügung. Wiedemann sagte: „In Jahrzehnten ist es nicht gelungen, die Versorgung über die Sektorengrenzen hinweg besser zu organisieren. Wir haben große Hoffnung, dass dies durch digitale Lösungen künftig gelingen wird.“