Die Arzneimittelkosten nehmen zu. Die Ausgaben für Arzneimittel sind von 29,36 Milliarden Euro im Jahr 2012 auf 36,27 Milliarden Euro im Jahr 2016 angestiegen. Die Frage, wann das Gesundheitssystem kollabiert angesichts explodierender Medikamentenkosten durch Fortschritt und zunehmend personalisierte Medizin, stand im Mittelpunkt der Saarbrücker Gesundheitsgespräche. Zu der Veranstaltung im Klinikum Saarbrücken eingeladen hatten die Barmer Landesvertretung Rheinland-Pfalz/Saarland, die Sozietät Heimes und Müller sowie das Saarländische Ärzte-Syndikat.
Die Redaktion der STANDORTinfo sprach mit drei Referenten der Saarbrücker Gesundheitsgespräche: Sven Lichtschlag-Traut, Fachanwalt für Medizinrecht der Sozietät Heimes und Müller, Dr. Thomas Stolz, Vorsitzender des Saarländischen Ärztesyndikats, sowie Dunja Kleis, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Rheinland-Pfalz und im Saarland.
Herr Dr. Stolz, inwieweit gelingt es heute, den Patienten einen umfassenden Zugang zu einer modernen Arzneimittelversorgung zu gewähren? Oder ist der Versorgungsalltag bereits durch einen restriktiven Einsatz von neuen Therapieoptionen gekennzeichnet?
Grundsätzlich stehen in Deutschland alle zugelassenen Arzneimittel für die Patientenversorgung zur Verfügung und das ist auch gut so. In Teilbereichen ist dieser berechtigte Patientenanspruch jedoch aufgrund extensiver Medikamentenkosten und der hierdurch erwachsenden Regressbedrohung der verordnenden Ärzte durch die Hintertür gefährdet. Dies betrifft insbesondere innovative Therapien mit sogenannten Antikörpern. Dies sind hochwirksame, nebenwirkungsarme Präparate, welche heute aus der Tumortherapie, aber auch der Behandlung zum Beispiel chronischer Entzündungen wie Multiple Sklerose oder Morbus Crohn nicht mehr wegzudenken sind. Die Jahrestherapiekosten liegen hier schnell bei 50.000 Euro und mehr – je Patient. Für die Behandlung von Patienten mit einer Hepatitis C können sogar noch deutlich höhere Beträge erforderlich werden. Nach gültiger Rechtsprechung haftet für diese Kosten im Einzelantragsverfahren allein der verordnende Arzt, und zwar in voller Höhe und mit seinem Privatvermögen. Um hier zu verhindern, dass ökonomische Aspekte zu Therapieverlagerungen führen, sind dringlich Lösungen gefordert, durch die gemeinsam zwischen Ärzten und Krankenkassen die erforderlichen Therapien im Konsens mit den bestehenden Leitlinien abgestimmt, dann aber auch unter Abwendung des Haftungsrisikos von den Ärzten eingesetzt werden können.
Ein neues Arzt-Informationssystem soll Ärzten besser als bisher Auskunft darüber geben, wie es um die frühe Nutzenbewertung neuer Medikamente steht. Inwiefern kann das geplante Arzt-Informationssystem hier hilfreiche Dienste leisten?
Der Ansatz, Ärzte besser als bisher über die Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses zur frühen Nutzenbewertung zu informieren, ist ausdrücklich zu begrüßen. Dabei ist jedoch streng darauf zu achten, dass aus Information nicht faktischer Verordnungsausschluss aufgrund von Hinweisen zur Wirtschaftlichkeit mit einer nochmals erheblichen Verschärfung der Regressbedrohung der Ärzte und einer Einschränkung der Therapiefreiheit wird. Die Informationen aus der frühen Nutzenbewertung stellen immer nur eine Momentaufnahme der vorliegenden Evidenz dar, sind jedoch keine Ersatzleitlinie. Sie können daher nur als zusätzliche Information für die Ärzte dienen. Als Basis für Prüfanträge sind sie ungeeignet.
Herr Lichtschlag-Traut, die Wirtschaftlichkeitsprüfungen der Ärzte dienen dem Zweck einer effizienten Verordnungspraxis. Wo liegen hier aktuelle Probleme?
Zu der Wirtschaftlichkeitsprüfung lässt sich sagen, dass die Brisanz abgenommen hat. Durch den Grundsatz Beratung vor Regress werden weniger Regresse ausgesprochen. Auf der anderen Seite sind neue juristische Fragen aufgetaucht, etwa die Frage, ob ein Arzt die Möglichkeit besitzt, gerichtlich gegen einen seiner Ansicht nach unzutreffenden Hinweis der Prüfstelle vorzugehen.
Wer trägt das haftungsrechtliche Risiko, wenn ein Patient zwar wirtschaftlich, aber nicht nach den neuesten Leitlinien behandelt wird?
Was die Haftung angeht, so ist darauf hinzuweisen, dass grundsätzlich der behandelnde Arzt die Therapieverantwortung trägt. Wenn es aber bedingt durch ein entsprechendes Gutachten des MDK zu einer ablehnenden Entscheidung des Kasse hinsichtlich eines Kostenerstattungsantrages kommt, können die wirtschaftlichen Zwänge dazu führen, dass der Patient dem Therapievorschlag des MDK oder der Kasse folgt. Wenn er zuvor von seinem behandelnden Arzt darüber aufgeklärt worden ist, dass es eine seiner Ansicht nach bessere Therapie gibt, die Kosten aber nicht von der Krankenversicherung übernommen werden und sich der Patient für die von der Kasse finanzierte Therapie entscheidet, dürfte dann, wenn sich herausstellt, dass die Therapie nicht erfolgreich war, eine Haftung des behandelnden Arztes ausscheiden. Sollte dem MDK-Arzt ein Fehler unterlaufen, stellt sich die Frage, wer die Haftung übernimmt. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass zwar die Krankenkasse die Entscheidung trifft, das Gutachten aber eine so gewichtige Rolle im Entscheidungsprozess spielt, dass eine Haftung des MDK zu prüfen ist. Eine persönliche Haftung des MDK-Arztes scheidet jedoch aus. Ist der MDK öffentlich-rechtlich organisiert, haftet der MDK als Anstellungskörperschaft für ein fehlerhaftes Gutachten. Ist der MDK hingegen privatrechtlich Organisiert, haftet die Krankenkasse.
Frau Kleis, Wie können Arznei-Innovationen dauerhaft für die Patienten bezahlbar gehalten werden?
Glücklicherweise bietet der medizinische Fortschritt für immer mehr Patienten neue individuelle Therapieoptionen. Zu verdanken ist das unter anderem innovativen Arzneimitteln. Doch gerade in diesem Segment verzeichnen wir enorme Kostensteigerung von bis zu 40 Prozent. Das gefährdet langfristig die Finanzierbarkeit der innovativen Arzneimittel. Wenn wir vorhandene Einsparpotenziale nutzen, können in der gesetzlichen Krankenversicherung Mittel frei werden, die in andere innovative Medikamente fließen könnten. Ein Beispiel hierfür ist der Einsatz von Biosimilars. Das sind Nachahmerprodukte von biotechnologisch hergestellten Arzneimitteln. Ein Biosimilar ist im Schnitt 25 Prozent günstiger als das Originalpräparat, aber qualitativ nicht schlechter. Wichtig ist auch, einen indikationsgerechten Einsatz von neuen Medikamenten auf Basis der Nutzenbewertung zu verwirklichen. Hier können die Kassenärztlichen Vereinigungen durch Bereitstellung unabhängiger Informationen Ärzten helfen, ihrer Verantwortung für eine qualitativ hochwertige, aber dennoch wirtschaftliche Verordnung gerecht zu werden.
Ist das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, vielen als AMNOG bekannt, ein wirksames Steuerungsinstrument?
Das mit dem AMNOG eingeführte Instrument der frühen Nutzenbewertung von neuen Medikamenten ist ein wirksames Instrument zur Bewertung des Zusatznutzens gegenüber einer Vergleichstherapie und zur Kostendämpfung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Echte Innovationen können damit von Scheininnovationen abgegrenzt werden und die Preise müssen sich am Nutzen orientieren. Um aber die richtige Balance zwischen Innovation und Bezahlbarkeit in der Arzneimittelversorgung zu schaffen, bedarf es weiterer gesetzlicher Anpassungen. Zusätzlich zur frühen Nutzenbewertung sollte es eine regelhafte Spätbewertung geben. Erkenntnisse aus dem Versorgungsalltag sollten im Rahmen einer nachträglichen Kosten-Nutzen-Bewertung in die Bewertung einfließen. Zudem sollte der zwischen Kassen und Pharmaindustrie verhandelte Erstattungsbetrag für Medikamente rückwirkend ab dem Tag des Inverkehrbringens gelten. Aktuell kann die Pharmaindustrie den Marktpreis für ihr Medikament im ersten Jahr selbst bestimmen. Und warum soll die Versichertengemeinschaft im ersten Jahr exorbitante Preise bezahlen, wenn keine Verbesserung der Therapie damit verbunden ist?
Standen bei den Saarbrücker Gesundheitsgesprächen Rede und Antwort (v.l.n.r.): Dr. Thomas Stolz (Saarländisches Ärzte-Syndikat), Julian Witte (Universität Bielefeld), Sven Lichtschlag-Traut (Sozietät Heimes und Müller), Dunja Kleis (Barmer) und Wolfgang Garbaciok (SHARP & DOHME GMBH). Nicht im Bild: Dr. Susann Breßlein (Klinikum Saarbrücken). Foto Barmer