Düsseldorf, 13. Dezember 2018 – Nordrhein-Westfalens größter Pflegedienst droht selbst zum Pflegefall zu werden: Rund 590.000 pflegende Angehörige kümmern sich um mehr als eine halbe Million Menschen und sind erschöpft. Laut Pflegereport 2018 NRW, den die Barmer am Donnerstag in Düsseldorf vorgestellt hat, stehen bereits jetzt mehr als 44.000 dieser Angehörigen kurz davor, die Pflege aufzugeben. „Ohne Angehörige bricht die Pflege in unserer Gesellschaft zusammen. Sie leisten einen unschätzbaren Dienst, für den sie bessere Unterstützung, mehr Entlastung und weniger Bürokratie brauchen. Die Digitalisierung bietet hierfür entscheidende Chancen“, sagte Heiner Beckmann, Landesgeschäftsführer der Krankenkasse in NRW.
Die Ergebnisse der repräsentativen Befragung aus dem Pflegereport zeigen: Rund 38.800 Angehörige in NRW möchten nur noch mit mehr Hilfe weiter pflegen, etwa 5.800 wollen dies keinesfalls länger tun. Ca. 195.700 der hiesigen Pflegenden sind berufstätig, die übrigen zwei Drittel haben ihren Job wegen der Pflege aufgegeben. Bis zu zwölf Stunden täglich versorgen sie ihre Eltern, Partner oder pflegebedürftige Kinder. Die Folgen: Sie haben Existenzängste und leiden im Vergleich zu Nicht-Pflegenden mehr an Depressionen, Rückenbeschwerden sowie Belastungsstörungen (Abb. 1).
Pflege ist je nach Region unterschiedlich stark Familiensache
„Die Menschen wollen so lange wie möglich zuhause bleiben, in ihrem eigenen Umfeld. Deshalb brauchen wir zu allererst eine Debatte darüber, wie wir Menschen für die Pflege gewinnen, aber auch was Digitalisierung und Robotik in der Pflege beitragen können“, betonte Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, Bevollmächtigter der Bundesregierung für Pflege.
Momentan leben in NRW etwa 74 Prozent der Pflegebedürftigen zuhause. Allerdings ist Pflege je nach Region unterschiedlich stark Familiensache (Abb. 2): In den Kreisen Olpe und Viersen, in Gelsenkirchen, Oberhausen sowie im Kreis Wesel ist der Anteil an Menschen, die zuhause gepflegt werden, überdurchschnittlich hoch. In den Kreisen Soest, Lippe und Coesfeld sowie in Leverkusen und Münster hingegen werden deutlich weniger Pflegebedürftige zuhause versorgt als im Landes-Schnitt.
„Auf dem Papier: in NRW mehr Kurzzeitpflegeplätze als in der Realität“
Erstaunlich ist, dass derzeit in Ausnahmesituationen, bei Krankheit oder für einen Urlaub der Angehörigen, Leistungen der Pflegekassen ungenutzt bleiben: Von den Pflegebedürftigen mit Anspruch auf Kurzzeitpflege in einer Einrichtung blieben im vergangenen Jahr ca. 96,9 Prozent rund um die Uhr daheim. „Auf dem Papier gibt es mehr Plätze für die Kurzzeitpflege als in der Realität. Außer in speziellen Einrichtungen sind auch Kurzzeitpflegeplätze in Pflegeheimen vorgesehen, die jedoch mit Heimbewohnern belegt werden und dadurch in der Kurzzeitpflege fehlen“, erklärte Hans-Werner Hüwel vom Caritasverband Paderborn.
Kein Pflegedienst bei zwei Drittel der Pflegebedürftigen zuhause
Der Pflegereport zeigt zudem: Abgesehen von fehlenden Plätzen zweifeln viele Angehörige in NRW an der Qualität der Angebote und scheuen die Kosten. Sie bewältigen auch den Alltag zumeist ohne Unterstützung. Bei zwei Drittel der zuhause lebenden Pflegebedürftigen (ca. 373.000) geschieht dies komplett ohne Pflegedienst. Wie viele Angehörige sich aus finanziellen Gründen gegen einen Pflegedienst entscheiden oder keinen finden, ist unklar. Fakt ist, dass im Jahr 2015 in NRW auf 100 Pflegebedürftige zuhause rund elf Vollzeit tätige Mitarbeiter von ambulanten Pflegediensten kamen. Inzwischen hat die Zahl der hiesigen Pflegebedürftigen jedoch um 18,6 Prozent zugenommen, während sich die Personalsituation in der Pflege weiter zugespitzt hat.
„Humanoide Roboter: großes Potenzial auch für die Pflege zuhause“
Entlastung von pflegenden Angehörigen könnten in Zukunft Roboter schaffen. „Roboter sollen Angehörige oder Pflegekräfte nicht ersetzen, aber sie sind durchaus in der Lage, Freiräume für mehr menschliche Nähe in der Pflege zu schaffen und die Angehörigen zu entlasten“, sagte Dr. Rainer Wieching, Bereichsleiter Gesundheit und Prävention am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und neue Medien an der Universität Siegen. Schon jetzt kann beispielsweise der humanoide Roboter Pepper pflegebedürftige Menschen mit einem Quiz anregen, sie mithilfe von Schlagern unterhalten oder mit ihnen Tai Chi zur Entspannung durchführen. Derzeit wird das Zusammenspiel von Pepper mit Pflegeheimbewohnern und Pflegekräften in der institutionellen Pflege in NRW erforscht. Das größte Potenzial für Roboter wie Pepper sieht Wieching aber mittel- bis langfristig bei der Pflege und Betreuung zuhause.
„Wir brauchen Regelungen zur Qualität, Haftung und Finanzierung“
„Die Chancen der Digitalisierung und Telematik müssen stärker genutzt werden. Dafür stellen wir gerade die Weichen. Aber Pflege ist eine Beziehung, eine hohe Kompetenz, die zwischen zwei Menschen stattfindet – hoch professionell, kommunikativ. Das kann kein Computer, das kann kein Roboter. Ich denke, man muss erkennen, dass zum Beispiel Robotik letztlich ein Instrument ist, das Unterstützung leisten kann, nicht mehr und nicht weniger,“ so Staatssekretär Westerfellhaus.
Welche Aufgaben Roboter bei der Pflege künftig übernehmen können und vor allem dürfen, untersuchen Wissenschaftler derzeit. „Bis die Forschung soweit ist, dass Roboter Teil des Pflegealltags werden, brauchen wir von der Politik Regelungen zur Qualität, Haftung und Finanzierung. Im Moment gibt es beispielsweise keine gesetzliche Grundlage für die Kostenübernahme durch die Pflegekassen“, forderte Beckmann.
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