Mit ihren Positionen zur Bundestagswahl will die Barmer Impulse für die Arbeit der zukünftigen Bundesregierung im Bereich der Gesundheitspolitik setzen. Die Corona-Pandemie zeige nicht nur, wie leistungsfähig das deutsche Gesundheitssystem grundsätzlich sei, so Heike Sander, Landesgeschäftsführerin der Barmer. Sehr deutlich werde auch, wo Reformen im Gesundheitswesen notwendig seien.
Frau Sander, die Corona-Pandemie beherrscht seit über einem Jahr die gesundheitspolitische Debatte. Was lehrt uns die Krise?
Das aktuelle Krisenmanagement fordert allen Beteiligten sehr viel ab. Um die Ausbreitung des Virus zu stoppen und die Bevölkerung zu schützen müssen ständig schnelle und mutige Entscheidungen getroffen werden. Das bindet seit einem Jahr alle Kräfte. Darüber darf jedoch nicht vergessen werden, dass das Gesundheitswesen reformbedürftig ist. Wir sehen viele strukturelle Probleme, die Corona-Krise macht sie meiner Meinung nach besonders deutlich. So gibt es gerade jetzt einen großen Bedarf an schneller Kommunikation und Koordination, an der Übertragung von medizinischen und epidemiologischen Daten. Und da fragen wir uns doch, warum im Bereich der Digitalisierung so zögerlich gehandelt wird. Hier bringt die Corona-Krise nun endlich einen Durchbruch und die notwendige Akzeptanz bei Patientinnen und Patienten sowie Ärztinnen und Ärzte. Das aktuelle Gutachten des Sachverständigenrats zur Digitalisierung im Gesundheitswesen hat es auf den Punkt gebracht: Wir müssen im Bereich der Digitalisierung neu denken. Strukturelle Defizite bestehen aber auch in den beiden großen Versorgungsbereichen der ambulanten und stationären Versorgung.
Welchen Handlungsbedarf sehen Sie für den ambulanten Bereich?
Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, dabei besonders die Hausärztinnen und Hausärzte, spielen eine herausgehobene Rolle in der Pandemie. Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern sind sie in Deutschland erste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten mit leichten Erkrankungen und damit halten sie die Krankenhäuser frei für schwere Fälle. Immer mehr Behandlungen können inzwischen ambulant erbracht werden, deshalb plädieren wir für einen konsequenten Ausbau der ambulanten medizinischen Versorgung. Allerdings dürfen wir die Sektoren nicht länger isoliert betrachten. Wenn ich von ambulanter Versorgung spreche, so denke ich sie bereits als Teil einer Vernetzung aller Versorgungsbereiche.
Der stationäre Bereich benötigt Ihrer Meinung nach eine umfassende Strukturreform. Wie soll die aussehen?
Im Krankenhausbereich zeigt sich meiner Meinung nach, wie weit Anspruch und Wirklichkeit auseinanderliegen. Die Krankenhausstrukturen entsprechen nicht mehr dem aktuellen Stand der Medizin. Die Beharrungskräfte sind jedoch sehr stark. Wir sollten die Krankenhausstrukturen endlich entschieden nach dem medizinischen Bedarf ausdifferenzieren und umbauen, um so eine effizientere Versorgung zu schaffen. Grundsätzlich sollten nur solche Krankenhäuser Patientinnen und Patienten mit schweren Erkrankungen behandeln, die dafür adäquat ausgestattet sind. Es geht dabei vor allem um die Sicherheit, aber auch um den gezielten Einsatz von Ressourcen. Dazu gehört auch, dass etwa kleine Krankenhäuser keine komplexen Eingriffe vornehmen sollten, wenn sie dafür nicht die entsprechende personelle und apparative Ausstattung vorhalten.
Heißt das, dass Sie Krankenhäuser schließen wollen?
Nein, darum geht es gerade nicht. Die meist eher kleinen Krankenhäuser werden für andere Aufgaben gebraucht. Wir stellen uns vor, dass sie zum Beispiel in lokale Versorgungseinrichtungen wie Gesundheits- oder Pflegezentren umgewandelt werden. Damit bekommen sie für die Region eine neue wichtige Funktion und decken einen breiteren Bedarf an nicht spezialisierten Leistungen ab. Hier wird auch die Vernetzung mit anderen Leistungserbringenden im Umkreis besonders wichtig.
Wie kann der Krankenhausbereich effizienter gestaltet werden?
Wir wollen die stationären Leistungen auf bestimmte Standorte konzentrieren. Grundlage dafür wäre die konsequente Durchsetzung eines gestuften Konzepts für Krankenhäuser. Dabei werden den Versorgungsstufen konkrete Versorgungsaufträge zugeordnet und das Leistungsspektrum der Krankenhäuser eindeutig definiert. Gleichzeitig gelten für die Leistungen in den Versorgungsstufen strikte Anforderungen an die Qualität. Dies wird in Niedersachsen auch bereits im Bericht der Enquetekommission des Niedersächsischen Landtages deutlich. Über die strukturellen Veränderungen hinaus fordern wir eine konsequente Anwendung der Qualitätsvorgaben im stationären Bereich wie die Regelungen für Mindestmengen oder das Zweitmeinungsverfahren. Nur so kann die Behandlungsqualität für die Patienten deutlich verbessert werden. Mindestmengen müssen verbindlich eingehalten und am besten auch auf weitere Leistungsbereiche ausgeweitet werden. Halten Krankenhäuser die Mindestmengenregelungen nicht ein, so muss das auch Folgen haben. Sie dürfen keine Vergütung mehr erhalten.
In der Krise gewinnt die Bundesebene an Einfluss, auch im Gesundheitswesen werden viele Entscheidungen auf dem Verordnungsweg getroffen. Wie wirkt sich das auf das Gesundheitssystem aus?
Meiner Meinung nach ist das Gesundheitssystem sehr leistungsfähig und wird auch diese Krise gut überstehen. Auf Grund seiner besonderen Verfasstheit ist es vielleicht manchmal langsam. Aber die gemeinsame Selbstverwaltung ist immer auf den Ausgleich der Interessen ausgerichtet und weil das System ja auch von den Beiträgen seiner Mitglieder lebt, muss es wirtschaftlich handeln. Der Staat tut gut daran, dieses System zu erhalten und ihm die notwendigen Entscheidungsfreiräume zu lassen. Dafür erwarten wir aber klare und faire Rahmenbedingungen bei der Finanzierung, der Aufsicht und dem Wettbewerb.
Es gibt Hinweise darauf, dass sich die finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenversicherung in den nächsten Jahren zuspitzen wird. Wie kann hier gegengesteuert werden?
In den letzten Jahren hatten sich die Finanzen der GKV sehr gut entwickelt, nicht zuletzt durch die gute Beschäftigungslage. Doch das ändert sich gerade. Nicht nur der medizinische Fortschritt führt zu erheblichen Kosten. Auch war die Gesetzgebung der letzten zwei Legislaturperioden sehr teuer, man denke nur an die Gesetzgebung zur Pflege und zu den Terminservicestellen.
Aufgabe der nächsten Regierung wird es deshalb sein, die Effizienzpotenziale des Systems zu heben. Dazu sind strukturelle Veränderungen im Krankenhaus- und Arzneimittelbereich sowie die Vernetzung und Digitalisierung der Versorgung unvermeidlich. Bund und Länder müssen aber auch ihren finanziellen Verpflichtungen nachkommen. Die Finanzierung von Investitionskosten für Kliniken oder von versicherungsfremden Leistungen wie den Ausgaben für ALG II-Bezieher muss ganz klar die öffentliche Hand tragen. Die begrenzten Finanzmittel der gesetzlichen Krankenversicherung stehen dafür nicht auf Dauer zur Verfügung.