Welches Potenzial für die Notfallversorgung steckt in der Digitalisierung? Kann die Telemedizin auch für die Versorgung von Notfällen hilfreich sein? Diese und weitere Fragen klären wir im Interview mit Dr. Christan Graf.
Dr. Christian Graf ist seit mehr als 20 Jahren in leitender Position im Bereich Versorgungsmanagement/Neue Versorgungsformen sowie Prävention bei der BARMER tätig. Derzeit arbeitet er als Bereichskoordinator Versorgung u.a. im Bereich Digitale Versorgung und Telekonsultation bei der BARMER in Wuppertal.
Herr Graf, bereits seit einigen Jahren ist die Videosprechstunde ein mögliches Instrument für Ärztinnen und Ärzte. Warum wird die Telemedizin nur so wenig genutzt?
Dr. Christian Graf: Seit Herbst 2019 gibt es eine Abrechnungsmöglichkeit für Vertragsärztinnen und Vertragsärzte nach dem EBM. Mit der ersten Pandemiewelle im zweiten Quartal 2020 kam es dann erstmals zu einem Anstieg der Fallzahlen von Videokontakten. Tatsächlich blieb die damals als „explosionsartig“ titulierte Fallzahlsteigerung jedoch in einem sehr überschaubaren Rahmen: Weniger als 0,5 Prozent aller ärztlichen Behandlungsfälle werden per Video erbracht, obwohl nach Expertenschätzungen und internationalen Erfahrungen bis zu 20 Prozent der Arzt-Patienten-Kontakte digital erfolgen könnten. Die absolute Zahl der Videosprechstunden ist seit 2021 sogar rückläufig. Vor allem führen nur etwa 6,5 Prozent der vertragsärztlichen Praxen überhaupt Videosprechstunden durch. So entsteht eine Versorgungslücke für mehr als 90 Prozent unserer Versicherten, die bei "ihren“ behandelnden Haus- und Fachärzten keine Behandlungsmöglichkeit per Video erhalten.
Die Gründe für die geringe Nutzung sind vielfältig und reichen von mangelnder Bereitschaft und digitaler Kompetenz der Patient*innen, über infrastrukturelle Hürden und Datenschutzbedenken, bis hin zu fehlenden Ressourcen und organisatorischen Voraussetzungen - vor allem bei Einzel- oder kleinen Gemeinschaftspraxen. Letzteres scheint mir der entscheidende Grund zu sein: Um die Vorteile einer digitalen Versorgung vollumfänglich nutzen zu können, benötigen wir ein Behandlernetzwerk mit einem übergeordneten System zur professionellen Prozessgestaltung der digitalen Versorgung. Angefangen bei der Technik, einem „Triage“-System, um Patienten, die unmittelbare persönliche ärztliche Hilfe benötigen, frühzeitig herauszufiltern, dem Terminmanagement, der Anbindung an die elektronische Patientenakte oder das eRezept und last but not least erweiterte Servicezeiten – also auch außerhalb der üblichen Praxisöffnungszeiten, abends und am Wochenende. Auch die Ansprache der Patienten (Motivation zum Selbstmanagement etc.) erfordert entsprechende professionelle Kommunikation, die durch digitale Strukturen unterstützt werden können. Dies stellen wir durch unseren BARMER Teledoktor sicher.
Welche Chancen bietet die Telemedizin in der Notfallversorgung?
Graf: Vor allem durch erweiterte Öffnungszeiten – abends und an den Wochenenden – könnte ein Teil der Behandlungsanfragen kanalisiert werden, so dass es zu einer signifikanten Entlastung der Notfallversorgung käme. Expertenschätzungen zufolge könnten 12 bis 25% der Kontakte in den Klinikambulanzen durch digitale Alternativen vermieden werden. Dies kann durch eine Videosprechstunde erreicht werden, die zudem mit einem Triage-System arbeitet, um akut behandlungsbedürftige Patienten zielsicher zu ermitteln und einer schnellen ersten Hilfe zuzuführen. Ein solches Triage-System ist etwa „SmED“, das auch im Rahmen des BARMER Teledoktors genutzt wird und mit Unterstützung von ausgebildetem medizinischen Fachpersonal (first level) durchlaufen wird. Damit werden auch unnötige direkte Arztkontakte vermieden, da zahlreiche medizinische Fragen bereits fallabschließend im First Level beantwortet werden können.
Neben der Videosprechstunde mit Triage können aber auch zahlreiche weitere digitale Hilfen die Notfallversorgung verbessern. Zu nennen ist hier auch die durchgängige Kommunikation über die elektronische Patientenakte. Heute gibt es immer noch zahlreiche Brüche in der Kommunikation, etwa wenn der Patient erst die 112 anruft und seine gesamte Krankengeschichte berichtet, dann an den ärztlichen Notdienst verwiesen wird und bei der 116117 anruft und alles wieder von vorne erzählt (usw.). Die zentrale Herausforderung besteht weiterhin darin, alle Informationssysteme miteinander zu vernetzen und einen durchgängigen Informationsfluss zwischen allen Behandlern zuverlässig zu installieren.
Wie will die BARMER für die eigenen Versicherten die digitale Versorgung stärken?
Graf: Der BARMER Teledoktor umfasst nicht nur Videosprechstunden, sondern auch Symptomchecks, digitale dermatologische Befundung, einen Terminservice und vieles mehr. Sogar digitale Krankmeldungen und AU-Meldungen wegen Erkrankung des Kindes sind möglich. Durch die erweiterten Praxisöffnungszeiten, etwa am Wochenende, können unsere Versicherten sofortigen Rat und Hilfe bekommen. Dadurch können, wie gesagt, unnötige Besuche der Notfallambulanzen in den Kliniken an den Wochenenden oder überfüllte Praxen Montag morgens vermieden werden.
Der Digitale Arzt-Patienten-Kontakt ist somit der Ausgangspunkt einer zukünftigen digitalen Versorgungslandschaft. Diese umfasst die Elektronische Patientenakte, das eRezept mit Medikationsplan zur Erkennung und Vermeidung von Arzneimitteltherapierisiken oder digitale Anwendungen, die anlassbezogen, etwa zum Blutdruckmanagement, aus dem Arztkontakt heraus strukturiert angeboten werden können. Wir setzen auf eine nutzerzentrierte Weiterentwicklung, um die Bekanntheit und den Gebrauch dieser neuen Versorgungsform zu steigern. Unser Ziel ist es, für unsere Versicherten erlebbar zu machen, wie sie mithilfe der vielfältigen digitalen Services ihre gesundheitlichen Bedürfnisse möglichst optimal decken können.
Vielen Dank für das spannende Interview!