Am 26. September 2021 wird der 20. Deutsche Bundestag gewählt. Der Blick in die Wahlprogramme der aktuell im Parlament vertretenen Parteien zeigt, welche Schwerpunkte die Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD sowie die Oppositionsparteien AfD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen für die kommende Legislaturperiode im Bereich der Gesundheitspolitik setzen. Wir stellen eine Auswahl der zentralen Themen vor:
Weiterentwicklung des Gesundheitssystems
Das bestehende duale System aus gesetzlicher (GKV) und privater Krankenversicherung (PKV) soll nach Meinung von CDU/CSU, FDP und AfD auch in Zukunft erhalten bleiben. Für die FDP ist die Wahlfreiheit für die Versicherten wichtig, sie will den Wechsel zwischen GKV und PKV vereinfachen. Eine systemische Veränderung fordert die AfD mit der Zusammenlegung von sozialer Pflegeversicherung und GKV, um Schnittstellenprobleme in der Versorgung zu vermeiden. Für die Finanzierung des Systems sehen die Unionsparteien weiterhin einkommensabhängige paritätische Beiträge vor, jedoch auch eine Eigenbeteiligung der Versicherten und einen dynamisierten Steueranteil für versicherungsfremde Leistungen. Wichtiges Anliegen der FDP ist eine Steuer- und Sozialabgabenquote unter 40 Prozent, dazu setzt sie auf wettbewerbliche Elemente unter den Kassen im Vertragswesen, aber auch auf finanzielle Anreize wie Boni oder Beitragsrückerstattungen für die Versicherten. SPD, Die Linke und Bündnis 90/DIE Grünen bleiben bei ihrer langjährigen Forderung nach einer Bürgerversicherung. Dabei spricht sich Die Linke klar für die Abschaffung des Nebeneinanders von GKV und PKV aus. Bündnis 90/Die Grünen hingegen wollen zunächst einen beihilfefähigen Tarif für gesetzlich versicherte Beamte schaffen und privat Versicherte im Basistarif besser absichern. Zur Finanzierung der Gesundheitskosten will Die Linke alle Bundesbürger mit allen Einkunftsarten heranziehen. Bündnis 90/Die Grünen nennen ausdrücklich auch Beamte, Selbständige, Unternehmer und Abgeordnete, neben den Löhnen und Gehältern sollen auch die Kapitalerträge zur Verbeitragung herangezogen werden. Die Linke will die Beitragsbemessungsgrenze in der GKV vollständig abschaffen, die SPD diese regelmäßig anpassen. Steuerzuschüsse und Investitionsmittel sollen laut SPD nur in Verbindung mit klaren Zielvorgaben für die Reform des Systems fließen. Selbstverwaltung und Beitragsfinanzierung sind nach Ansicht der Barmer das Fundament der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie sind wesentlich für den Interessensausgleich im Gesundheitswesen und für eine Balance zwischen einem umfassenden Leistungskatalog der GKV und der Wirtschaftlichkeit des Systems. Die Selbstverwaltung benötigt Freiräume, um die ihr übertragenen Aufgaben zu erfüllen.
Barmer: Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung muss langfristig gesichert werden. Notwendig ist deshalb ein klarer wettbewerblicher Rahmen für die Krankenkassen mit einer einheitlichen Bundesaufsicht für alle Kassen. Gleichzeitig müssen beitragsfinanzierte Leistungen der GKV von gesamtgesellschaftlichen und investiven Aufgaben klar abgegrenzt werden, die Bund und Länder durch Steuerzuschüsse finanzieren müssen.
Kooperation und Koordination – Sektorenübergreifende Versorgung
Bereits in der jetzt zu Ende gehenden 19. Legislaturperiode hatte sich die Große Koalition auf die Weiterentwicklung der sektorenübergreifenden Versorgung verständigt, dazu wurde eigens eine Bund-Länder-AG eingesetzt. In der Gesetzgebung hat das Vorhaben nur einen geringen Niederschlag gefunden. Nicht für alle Parteien hat das Thema Priorität: So findet sich in den Wahlprogrammen von Union und AfD wenig Konkretes zur sektorenübergreifenden Versorgung. Die Union setzt auf eine stärkere vernetzte Zusammenarbeit der einzelnen Akteure. Die anderen Parteien wollen in der nächsten Wahlperiode eine Veränderung der sektoral gegliederten Versorgung herbeiführen: Die SPD spricht von einer Neuordnung der Rollenverteilung im ambulanten und stationären Sektor und will die Sektorengrenzen überwinden. Die FDP beabsichtigt, die Versorgungsbereiche besser zu verzahnen und zu vernetzten. Krankenhäuser sollen sich stärker für ambulante Behandlungen öffnen (SPD), Behandlungsmethoden leichter aus dem Krankenhaus in den ambulanten Sektor überführt werden können (FDP) und perspektivisch eine gemeinsame Abrechnungssystematik für ambulante und stationäre Leistungen geschaffen werden (Bündnis 90/Die Grünen). Ziel ist es auch, die interdisziplinäre Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe zu verbessern (SPD, Bündnis 90/Die Grünen) und integrierte Modelle besonders für die Versorgung in der Region voranzubringen (FDP, Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen).
Barmer: Für eine patientenorientierte, qualitativ hochwertige medizinische Versorgung müssen die Strukturen des Gesundheitssystems weiterentwickelt werden. Ziel muss es sein, die Versorgung stärker zu vernetzen und sektorenübergreifend auszubauen. Dazu sollten Leistungen, die sowohl in der Vertragsarztpraxis als auch im Krankenhaus erbracht werden können, sektorenübergreifend geplant werden. Zudem ist ein Vergütungssystem notwendig, das sowohl im niedergelassenen ambulanten Bereich als auch im stationären Bereich anwendbar ist. Für bessere sektorenübergreifende Strukturen ist ein breiter politischer Konsens notwendig. Die neue Bundesregierung muss diese wichtige Strukturreform angehen, um die Behandlungsqualität für Patientinnen und Patienten, aber auch die Effizienz des Gesundheitssystems entscheidend zu verbessern.
Reform der stationären Versorgung
Das bestehende Finanzierungssystem im Krankenhausbereich steht in der Kritik: Bündnis 90/Die Grünen wollen eine neue Finanzierungssäule für Vorhaltekosten schaffen und darüber hinaus den verbleibenden fallzahlabhängigen Vergütungsteil reformieren. Auch soll die Investitionsfinanzierung in Zukunft nicht mehr allein durch die Länder, sondern zusätzlich auch vom Bund getragen werden. Die SPD will die Fallpauschalen überarbeiten und, wo nötig, abschaffen. In jedem Fall soll die Kinder- und Jugendmedizin außerhalb der DRGs finanziert werden. Die Linke würde die Fallpauschalen vollständig abschaffen, die AfD setzt sich für individuelle Finanzierungsvereinbarungen zwischen Krankenkassen und Kliniken ein. Für Union und SPD ist die bedarfsgerechte Versorgung im ländlichen Raum ein wichtiges Anliegen. CDU/CSU wollen die flächendeckende Grund- und Regelversorgung bei der Krankenhausplanung und Finanzierung stärker berücksichtigen. Strukturelle Reformen wie eine Spezialisierung von Leistungen zur Steigerung der Qualität oder die Umwandlung nicht ausgelasteter Krankenhäuser in Gesundheitszentren fordern Bündnis 90/Die Grünen. Die Union legt einen Schwerpunkt auf die Digitalisierung mit dem virtuellen Krankenhaus und einer besseren Behandlung vor Ort durch verstärkten Einsatz von Televisiten und -konsilen.
Barmer: Im Krankenhausbereich ist eine grundlegende Reform notwendig. Dabei muss die Qualität der Versorgung im Mittelpunkt der Überlegungen stehen. Vielen kleinen Krankenhäusern fehlt die notwendige Ausstattung und Routine, um lebensbedrohliche Notfälle oder bestimmte planbare stationäre Leistungen adäquat behandeln zu können. Die Krankenhausstrukturen sollten in Zukunft stärker einem gestuften Konzept folgen: Auf diese Weise werden das Leistungsspektrum der Häuser eindeutig definiert und gleichzeitig strikte Anforderungen an die Qualität formuliert. Das dient der Patientensicherheit. Das DRG-Vergütungssystem hat sich grundsätzlich bewährt, jedoch sollten die Vorhaltekosten vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus unter Einbezug von Wirtschaftlichkeitsanreizen neu kalkuliert werden, da diese in den Versorgungsstufen stark variieren. Darüber hinaus müssen die Länder ihren Investitionsverpflichtungen nachkommen.
Digitale Innovationen für die Gesundheitsversorgung
Grundsätzlich sehen alle Parteien die Vorteile der Digitalisierung für das Gesundheitswesen. Die Union will „digitale Versorgungsketten“ ermöglichen, mit denen Informationslücken zwischen Praxis und Krankenhaus beseitigt werden sollen. Zudem sollen Patientinnen und Patienten ihre gesamte Krankengeschichte an einem Ort speichern und Leistungserbringer darauf zugreifen lassen können. Die elektronische Patientenakte (ePA) soll auch nach Meinung von Bündnis 90/Die Grünen weiterentwickelt werden, unter Einbeziehung von Patientenorganisationen. In ihrem ergänzenden eigenen Wahlprogramm fordert die CSU ein Opt-Out-Modell für die ePA. Für die SPD besitzt die Digitalisierung Potenziale für die Verbesserung von Diagnosen und die flächendeckende Versorgung. So soll auch die Forschung zur personalisierten Medizin gefördert werden. Die FDP fordert klare Rahmenbedingungen für die Digitalisierung und nennt hierfür offene Standards, Interoperabilität und Datensicherheit. Datenschutz und die eigenverantwortliche Nutzung der eigenen Daten haben für die AfD und Die Linke Priorität, sie stellen sich zudem gegen eine zentrale Datenbank zur Speicherung vertraulicher Patientendaten. DIE Linke spricht sich für evidenzbasierte Bewertungsverfahren für eHealth-Anwendungen analog zu anderen medizinischen Behandlungsmethoden aus.
Barmer: Die elektronische Patientenakte ist ein wichtiges Instrument, mit dem die medizinische Behandlung und die pflegerische Versorgung für Patientinnen und Patienten verbessert werden kann. Sie stiftet jedoch nur dann einen medizinischen Nutzen, wenn die enthaltenen Befunde vollständig und aktuell sind. Sinnvoll ist die Spende eigener Daten für die medizinische Forschung. Versicherte sollten die Daten aber auch ihrer Krankenkasse zur Verfügung stellen können, etwa für ein gezieltes Versorgungsmanagement.
Weiterentwicklung der Pflege
Auch bei der Pflegeversicherung streben SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen eine Bürgerversicherung an. SPD und DIE LINKE wollen diese ausdrücklich als Vollversicherung ausgestalten. Die AfD will soziale Pflegeversicherung (SPV) und GKV zusammenlegen. Nach Ansicht der Union soll das bestehende System erhalten bleiben: Zur Finanzierung sprechen sich CDU/CSU für die staatliche Förderung einer betrieblichen Pflegezusatzversicherung aus, für die Verlängerung des Pflegevorsorgefonds und die Dynamisierung der Pflegeleistungen auf Grundlage der Lohnentwicklung. Vorschlag der FDP ist ein Drei-Säulen-Modell aus Umlagefinanzierung, privater und betrieblicher Vorsorge in Analogie zur Rente. Um den Pflegeberuf attraktiver zu machen, planen SPD, Die Linke und die AfD eine bessere Entlohnung über Flächentarifverträge. Grundsätzlich wollen die Parteien bessere Arbeitsbedingungen schaffen: Durch bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie und mehr eigenverantwortliche Arbeit (Bündnis 90/Die Grünen), durch die Schaffung rechtlicher Klarheit für 24-Stunden-Pflege (SPD) bzw. die Legalisierung von Beschäftigten in Privathaushalten (Die Linke). Auch der Ausbau der digitalen Dokumentation (Union) und der Robotik (Union, FDP) soll Erleichterungen für das Personal bringen. Die Union stellt zudem eine generelle Schulgeldfreiheit für Gesundheits- und Pflegeberufe in Aussicht.
Barmer: Aufgrund der Alterung der Gesellschaft wird der Bedarf an Leistungen aus der SPV weiter steigen. Steigende Kosten entstehen auch aus der besseren Entlohnung von Pflegekräften sowie der Dynamisierung der Pflegeleistungen. Die Finanzierung der Pflegeversicherung muss deshalb umfassend abgesichert werden. Dazu ist nicht nur eine Verstetigung des Steuerzuschusses notwendig. Gleichzeitig müssen die Bundesländer ihrer Aufgabe nachkommen, die Investitionskosten für Pflegeeinrichtungen und die Ausbildungsumlagen für Pflegeschulen zu tragen. Denn die SPV trägt aufgrund der Risiken deutlich höhere Kosten als die private Pflegeversicherung. Hier ist ein Finanzausgleich notwendig. Zur Verbesserung der Qualität in der Pflege sollten verstärkt digitale Assistenztechnologien eingesetzt werden. Digitale Angebote beschleunigen zudem die Kommunikation der Versicherten mit ihrer Pflegekasse, etwa beim Online-Pflegeantrag oder den schnellen digitalen Verfahren zur Beantragung von Leistungen.