Prof. Dr. Beate Blättner hat im Auftrag des GKV-Spitzenverbands im Jahre 2015 eine Expertise zu „Identifikation, Beschreibung und Begründung von Kriterien zur Prävention in der stationären Pflege (gemäß § 5 Abs. 1 SGB XI) erstellt und ihn 2017 überarbeitet. Diese Darstellung der vorhandenen Studienlage zur Prävention von Maßnahmen in stationären Setting in Pflegeeinrichtungen war Basis für den Leitfaden Prävention für stationäre Pflegeeinrichtungen, der Einzug in das Präventionsgesetz erhalten hat.
Sehen Sie durch die Grundlage des Präventionsgesetz Möglichkeiten, wirksame Maßnahmen für den Gesundheitsförderungsprozess in stationären Pflegeeinrichtungen nachhaltig anbieten zu können? Sind die Strukturen und Prozesse im Pflegealltag hiernach bereits schon ausgerichtet oder kollidieren hier nicht die vorhandenen Maßnahmen wie beispielsweise „Aktivitäten des alltäglichen Lebens (ADL)“ mit den neu auszurichtenden Präventionsmaßnahmen?
Prof. Dr. Blättner: Das Präventionsgesetz setzt an einer anderen Ecke an als die bisherigen Maßnahmen. Selbstverständlich sind aktivierende Pflege und eine gute Versorgung von zentraler Bedeutung für die Förderung der Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohnern von Pflegeeinrichtungen. Gesundheit kann aber nicht nur auf der Ebene der Pflegebeziehung und der sozialen Betreuung gefördert werden, sondern genauso auf der institutionellen Ebene. Beide Interventionsebenen ergänzen und unterstützen sich wechselseitig. Da setzt das Präventionsgesetz an. Entsprechende Maßnahmen werden dadurch nachhaltig, dass sie in einen gesundheitsfördernden Veränderungsprozess der Institution eingebunden sind.
Sie führen Handlungsfelder auf, die einen möglichen Ansatz für Spielräume geben. Hierzu zählen die Ernährung, körperliche Aktivität, kognitive Ressourcen, psychosoziale Gesundheit und Gewalt. Warum sind genau diese fünf Schwerpunktthemen für die Präventionsarbeit in Pflegeeinrichtungen von großer Bedeutung?
Prof. Dr. Blättner: Es gibt weitere Handlungsfelder, die Relevanz haben, denken Sie beispielsweise an Hitzeextreme oder das große Thema Arzneimitteltherapiesicherheit. Wir wissen aber, dass Einschränkungen in der Durchführbarkeit alltäglicher Aktivitäten (den ADLs), kognitive Beeinträchtigungen, eine schlechte psychische Gesundheit und alltägliche Gewaltwiderfahrnisse zentrale Probleme in der stationären Pflege sind. Das Handlungsfeld Ernährung war durch das Nationale Gesundheitsziel ‚Älter werden‘ vorgegeben. Wir wissen auch, dass körperliche Aktivität sowohl auf die ADLs als auch auf die kognitive Leistungsfähigkeit positiv wirken kann. Weniger wissen wir darüber, wie die psychische Gesundheit stabilisiert werden kann.
Wie schätzen Sie die Akzeptanz bei den Bewohnerinnen und Bewohnern als auch dem Pflegepersonal ein, frühzeitige Angebote zur Steigerung der Lebensqualität in den jeweiligen Handlungsfeldern in Anspruch zu nehmen? Sind gesundheitsförderliche Maßnahmen in dieser Lebenssituation überhaupt sinnvoll?
Prof. Dr. Blättner: Gesundheit lässt sich immer fördern, auch bei schwer Pflegebedürftigen. Dafür gibt es auch hinreichend Belege und wenn es möglich ist, ist es schon ethisch geboten. Akzeptanz setzt voraus, dass die Bewohnerinnen und Bewohner vorher gefragt werden, was ihnen wichtig ist und was ihnen helfen könnte und dass die Gesundheit der Pflegekräfte selbst ebenfalls gefördert wird. Aus der Literatur wissen wir aber auch, dass es wichtig ist, die Motivation aufrechtzuerhalten. Dazu braucht es soziale Unterstützung.
Frage: Ist die Zeit reif, für digitale Angebote im Pflegealltag? Die Generation der dort lebenden Bewohnerinnen und Bewohner haben die digitale Welt nur bedingt miterleben können. Kinder und Jugendlichen sind heutzutage ‘digital natives‘ und die meisten Erwachsenen haben sich rasant der neuen digitalen Welt angeschlossen. Untersuchungen belegen bereits die Wirksamkeit von ‚serious games‘ vor allem im schulischen Setting, da man durch das spielerische Lernen mehr Erfolge bei allen Beteiligten erzielen kann. Welchen Nutzen sehen Sie in der Anwendung von therapeutisch-computerbasierten Videospielen bei Seniorinnen und Senioren als auch den Beschäftigten im stationärem Pflegealltag?
Prof. Dr. Blättner: Es gibt bestimmt Gruppen von Bewohnerinnen und Bewohnern, die neugierig darauf sind, was neue Medien Ihnen bieten können, wenn sie einfach zu bedienen sind. Andere werden desinteressiert oder überfordert sein. Entscheidend ist, Bewohnerinnen, Bewohner und Beschäftigte vorher entscheiden zu lassen, was sie sich wünschen und was sie brauchen. Serious Games ohne Einbindung in einen Veränderungsprozess der Institution werden bald einstauben.