Auch wenn einige Reformen jetzt auf den Weg gebracht wurden, bleibt das Thema Pflege weiterhin im Fokus. Wir sprachen mit Prof. Heinz Rothgang über die künftigen Herausforderungen.
Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland steigt stärker als bisher angenommen. Der Barmer GEK Pflegereport 2015 zeigt, dass bis 2060 geschätzt 4,52 Millionen Menschen gepflegt werden. Das sind 221.000 mehr, als bisherige Prognosen erwarten ließen. Gleichzeitig steigt der Anteil hochbetagter Pflegebedürftiger. Vor welchen Herausforderungen stehen die Versorgungssektoren in der Pflege?
Prof. Heinz Rothgang: Im 2011 durchgeführten Zensus hat sich gezeigt, dass in Deutschland etwa 1,5 Millionen Menschen weniger leben als aufgrund der Bevölkerungsfortschreibung angenommen. Damit liegt aber auch die Pflegequote, also die Zahl der Pflegebedürftigen pro Einwohner höher. Wird dies in Vorausberechnungen berücksichtigt, ergibt sich die genannte höhere Zahl Pflegebedürftiger. Dazu kommt, dass mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ein Pflegegrad 1 eingeführt wird, der unterhalb der bisherigen Schwelle zur Leistungsgewährung liegt. Das wird die Zahl der Pflegebedürftigen noch einmal um geschätzt eine halbe Million erhöhen – mit im Zeitverlauf steigender Tendenz. Schließlich steigt das Durchschnittsalter der Pflegebedürftigen.
Hochbetagte Pflegebedürftige werden aber häufiger von Pflegeeinrichtungen versorgt. Insgesamt droht daher eine Versorgungslücke, weil wir aufgrund sinkender familialer Pflegekapazitäten pro Pflegebedürftigen und einer zunehmenden Zahl Pflegebedürftiger in Zukunft doppelt so viele Pflegekräfte brauchen wie heute– bei sinkendem Erwerbspersonenpotential. Die Versorgung personell sicherzustellen, ist daher die wahrscheinlich größte zukünftige Herausforderung für die Pflege.
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff bringt ein neues Selbstverständnis in die Pflege: Ressourcen werden künftig stärker berücksichtigt. (Wie) wird sich dies auch in der Pflegepraxis wiederspiegeln?
Prof. Heinz Rothgang: Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff regelt zunächst nur die Leistungsansprüche der Versicherten gegen die Pflegekasse. Diese werden auf eine neue Grundlage gestellt. Was in Pflegeeinrichtungen geschieht, ist davon nicht betroffen.
Auch derzeit muss Pflege auf dem „allgemein anerkannten Stand der medizinisch-pflegerischen Erkenntnisse“ erfolgen – unabhängig vom Verfahren zur Ermittlung der Leistungsansprüche. Nach Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs ändert sich bei der Leistungserbringung daher erst einmal nichts.
Soll das erweiterte Pflegeverständnis, das den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff prägt, in den Pflegealltag einziehen, muss dies explizit von den Vertragspartnern vereinbart werden, insbesondere in den Rahmenverträgen auf Landesebene nach § 75 SGB XI. Ohne ausdrückliche Regelungen bleibt der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Praxis hier wirkungslos.
Entsprechende Konzepte etwa zur Sicherstellung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sind von den Einrichtungen bisher aber noch kaum entwickelt worden. Hier bleibt noch viel zu tun.
Ein wesentliches Anliegen der Pflegeversicherung ist das Prinzip ambulant vor stationär. Dafür ist entscheidend, wie das Wohn- und Lebensumfeld gestaltet ist. Was sind hier aus Ihrer Sicht wesentliche Potenziale und Herausforderungen?
Prof. Heinz Rothgang: Durch die Neufestsetzung der Leistungshöhen im Zweiten Pflegestärkungsgesetz verändert sich die Anreizstruktur. Für zukünftige Pflegebedürftige in niedrigem Pflegegrad erhöhen sich die Leistungssätze in der ambulanten Pflege erheblich, während gleichzeitig der Eigenanteil in der stationären Pflege im Vergleich zum Status quo ante ansteigt. Dies schafft Anreize zur häuslichen Pflege.
Im Dritten Pflegestärkungsgesetz wird zudem die Rolle der Kommunen in der Pflege gestärkt, die allein in der Lage sind Care Management-Strukturen aufzubauen. Aber auch die Kassen sind gefordert. So ist die Hälfte der Wohnungen, in denen mindestens ein Pflegebedürftiger wohnt, nach Einschätzung der Betroffenen nicht behindertengerecht. Nach objektiven Kriterien ist dieser Anteil noch höher. Dennoch werden die wohnumfeldverbessernden Maßnahmen der Pflegeversicherung kaum abgerufen – unter anderem weil die Betroffenen nicht ausreichend darüber informiert sind. Hier besteht daher Potential für die Pflegekassen.