„Mit rund 800 Seiten ist das Gutachten ´Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung‘ die größte Drucksache, die je beim Bundestag hinterlegt wurde. Wir freuen uns deshalb auf eine spannende Zusammenfassung in 30 Minuten“, mit diesen Worten begrüßte Moderator Stefan Schröder (Chefredakteur Wiesbadener Kurier) Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, den Vorsitzenden des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR Gesundheit). Um es vorweg zu sagen: es wurden letztendlich fast 60 Minuten und damit ein gelungener Auftakt mit genügend Diskussionspotential für die Gäste und die Podiumsteilnehmenden am Barmer Diskussionsforum in Wiesbaden zur Landtagswahl. Dazu hatte Landesgeschäftsführer Norbert Sudhoff die gesundheitspolitischen Sprecherinnen und Sprecher der fünf Landtagsfraktionen Dr. Ralf-Norbert Bartelt (CDU), Markus Bocklet (Bündnis 90/ Die Grünen), René Rock (FDP), Marjana Schott (Die Linke) und Dr. Daniela Sommer (SPD) eingeladen.
Das Patientenwohl steht an oberster Stelle
„Es wird nie eine Gesundheitsreform geben, die alle Probleme lösen wird“, betonte Prof. Dr. Gerlach. „Aber es gibt dringende Herausforderungen an das derzeitige System, denen wir uns stellen müssen.“ Der Sachverständigenrat hat in seinem Gutachten rund 70 Empfehlungen für eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung erarbeitet. „Das Leitprinzip all unserer Empfehlungen ist das Patientenwohl“, so Gerlach. „Wir dürfen den Patientinnen und Patienten nichts überstülpen, sondern wir müssen vor allem ihre Gesundheitskompetenz stärken, Orientierungshilfen bieten und für Transparenz im System sorgen.“ Auch in einem komplexen Gesundheitssystem müsse der Patient der Kapitän bleiben. Er bestimmt den Kurs. Den Hausarzt sollte er sich als Lotsen ins Boot holen, um mit seiner Hilfe durch diese komplexen Gewässer zu steuern.
Sektorenübergreifende Versorgung - die gibt es nicht
Auf drei zentrale Themen im Gutachten, die auch für die Bundesländer von großem Interesse sind, ging Gerlach näher ein: die sektorenübergreifende Versorgung, die Planung und Finanzierung von Krankenhäusern sowie die Ausgestaltung der Notfallversorgung. „Fangen wir mit der sektorenübergreifenden Versorgung an, die es in Deutschland praktisch nicht gibt“, stellte Gerlach nüchtern fest. Die Mauer zwischen der ambulanten und der stationären Welt ist mehr als standhaft. Es herrschen auf beiden Seiten so unterschiedliche Rahmenbedingungen, dass eine bedarfsgerechte Versorgung schier unmöglich ist. „Was müsste passieren, damit diese beiden Welten zusammenarbeiten?“, fragte Gerlach in die Runde.
Das §90a Gremium
Gute Ansätze für eine sektorenübergreifende Versorgung gibt es bereits: die ambulante spezial-fachärztliche Versorgung, spezielle Versorgungsformen, medizinische Versorgungszentren, Praxisnetze und nicht zuletzt der Innovationsfonds. Allerdings werden die Potentiale bei Weitem nicht ausgeschöpft. Voraussetzungen für eine sektorenübergreifende Planung sind für den Sachverständigenrat: Harmonisierung der Planung, die Einführung eines hybriden Planungsbereichs und letztendlich die Zusammenführung aller ambulanten und stationären Kapazitäten in einem Planungsgremium. „Die Landesgremien nach §90a wären hier bestens geeignet“, so Gerlach, “aber diese muss man erst gesetzlich aufrüsten, damit sie im Sinne einer sektorenübergreifenden Bedarfsplanung handlungsfähig werden.“
Reformbedarf in der Krankenhausfinanzierung
Die vorhandenen Investitionsmittel der Länder reichen nicht aus, um den Bedarf zu decken. Mit dieser Aussage verriet Prof. Gerlach den Gästen keine Neuigkeit. Mit einer Förderquote von etwa vier Prozent stehe Hessen im Vergleich der Bundesländer noch recht gut da. Der Sachverständigenrat vertritt allerdings auch die Meinung, dass es bundesweit derzeit ein Überangebot an Krankenhäusern gibt. „Wir verschleißen unsere medizinischen und pflegerischen Ressourcen sinnlos in einem Hamsterrad“, meinte Gerlach. Hinsichtlich der Investitionskostenfinanzierung, der Betriebskostenfinanzierung sowie der Finanzierung der Universitätsmedizin und der ärztlichen Weiterbildung, stellte Gerlach interessante Empfehlungen aus dem Gutachten detaillierter vor.
Notfallversorgung für die Patienten klarer gestalten
Ein klassisches Beispiel für eine intransparente, ineffiziente und teure Versorgung ist in Deutschland die Notfallversorgung. „Landauf und Landab das gleiche Bild. Verstopfte Notaufnahmen, lange Wartezeiten, überfordertes Personal und unzufriedene Patienten“, skizzierte Gerlach die Situation. Dass hier dringender Reformbedarf bestehe, sei allen Akteuren klar. Nicht umsonst ist das Thema Notfallversorgung auch in den Koalitionsvertrag aufgenommen worden. Er stellte das Konzept einer integrierten Notfallversorgung mit einer einheitlichen Leitung , einer einheitlichen Vergütung, optimierte Strukturen und klaren Prozessabläufen vor.
Was kann in Hessen getan werden?
Nach einem rasanten Galopp durch das deutsche Gesundheitswesen, appellierte Gerlach an die hessischen Landespolitiker: „Für eine hochwertige Gesundheitsplanung müssen Sie lokale Perspektiven und Egoismen überwinden. Planung und Steuerung muss sich an der Qualität orientieren und nicht an Gemeinde-, Kreis- oder Ländergrenzen.“
Als Beispiel für eine gezielte Steuerung und qualitätsorientierte Planung in der Krankenhauslandschaft stellte Gerlach das hessische Onkologiekonzept heraus. Allerdings müsse der ambulante Bereich zukünftig stärker einbezogen werden. Ein besonderes Augenmerk sollten alle Akteure auf regionale, interdisziplinäre und professionsübergreifende Versorgungsnetzte legen. „Vergessen Sie bei diesen Konzepten bitte weitere Berufsgruppen, wie Apotheker und Physiotherapeuten, nicht“, so Gerlach. Für strukturschwache, ländliche Landesteile empfahl der Experte gezielte Maßnahmen, wie Gesundheitszentren, Mobilitäts- und Digitalisierungskonzepte sowie Zweicampus-Modelle der Universitäten Frankfurt und Marburg zur Ausbildung von Studierenden im und für den ländlichen Raum.