Von Norbert Sudhoff, Landesgeschäftsführer der Barmer Hessen
In unserem Alltag sind digitale Medien und Geräte sehr präsent. Allen voran das Smartphone, mit dem wir einen großen Teil unseres Tages organisieren. Auf das Smartphone könnte man vielleicht sogar verzichten, ebenso auf digitale Gadgets oder den Smart-TV. Aber Smartphone, Smart Speaker und die Vielzahl an digitalen Anwendungen und Apps sind gewissermaßen nur die Oberfläche. Die Digitalisierung reicht inzwischen tiefer, durchdringt die Gesellschaft und betrifft die wichtigsten Fragen des sozialen Miteinanders. Dies gilt sogar besonders für das Gesundheitswesen und die Frage nach medizinischer Versorgung. Das Smartphone können und sollten wir von Zeit zu Zeit ignorieren, die Digitalisierung als gesellschaftlichen Prozess nicht. Darum ist es uns umso wichtiger diese Entwicklung aktiv und verantwortlich mitzugestalten. Wir stellen uns diesen Herausforderungen seit Jahren, suchen den Dialog mit allen Verantwortlichen und können deshalb schon jetzt eine herausragende Palette digitaler Angebote anbieten. Alle Produkte, angefangen von Apps bis hin zu Online-Schulungen, haben eines gemeinsam: sie machen den Zugang zu guter Versorgung niedrigschwellig und unterstützen in gesundheitlichen Angelegenheiten.
Die Digitalisierung ist ein Querschnittsthema, das uns derzeit intensiv begleitet. In ganz unterschiedlichen Bereichen der Gesundheitsversorgung – Prävention, Infrastruktur, Pflege usw. – kommt die Sprache auf das Thema Digitalisierung. Telemedizin, Apps auf Rezept und die elektronische Patientenakte (ePA) sind dabei für uns nicht ausschließlich Produkte, sondern auch gesundheitspolitische Instrumente. Mit diesen Instrumenten stellen wir uns Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung, für die wir uns schon seit Jahrzehnten einsetzen. Im Idealfall könnte die ePA das Gesundheitswesen generell stärker und sinnvoll zusammenwachsen lassen. Zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, Pflege und Reha bestehen immer noch vermeidbare, systemische Organisationsdefizite, die - je nach Region - auch in Hessen zu spürbaren Versorgungsdefiziten führen können. Die ePA kann all diese Leistungserbringer vernetzen und sollte ein weiterer Anreiz sein, die Gesundheitsversorgung effizient über die Sektorengrenzen hinaus zu denken. Diesen Weg gestalten wir aber nicht nur mit Forderungen an Andere, sondern mit hohem Anspruch an die eigene Haltung und an unsere aktuellen Produkte und Angebote.
Hoher Anspruch an die Sicherheit – Wir wollen Akzeptanz durch Vertrauen
Anlass und Grund für künftige Veränderungen sind für uns nicht allein die Strukturen des Gesundheitswesens. Grundsätzlich müssen immer das Wohl und die Bedürfnisse der Menschen an erster Stelle stehen. Eine Digitalisierung ohne Akzeptanz und objektiv messbare Mehrwerte für Patienten und Versicherte ist für das Gesundheitssystem indiskutabler Selbstzweck. Wir wollen unsere Versicherten qualitativ hochwertig versorgen, ohne Bevormundung, Maßregelung oder Kontrolle. Das geht nur mit Vertrauen. Wir fordern deshalb eine Telematikinfrastruktur nach höchsten Standards und legen den gleichen Maßstab auch bei eigenen Produkten und Kooperationen an. Unser Ideal sind gut geschützte Informationen, die Versicherte kompetent selbst verwalten und gezielt zur individuellen Gesundheitsversorgung und -förderung einsetzen.
Alle Altersgruppen werden erreicht – Nutzerdaten zeigen hohe Akzeptanz im Aufwärtstrend
Stetig steigende Nutzerzahlen bei unseren digitalen Angeboten zeigen, dass unsere Versicherten uns in Sachen Datensicherheit vertrauen. Das digitale Portal "Meine Barmer" nutzen 1,2 Millionen Versicherte. Alle Services sind zudem über unsere Barmer-App mobil abrufbar. Auch hier können zum Beispiel Versicherungsnachweise abgerufen, Arbeitsunfähigkeits (AU)-Bescheinigungen eingereicht sowie eine Vielzahl von Anträgen online gestellt werden. Mit dem digitalen "Gesundheitsmanager" steht ein Tool zur Verfügung, mit dem sich Vorsorgeuntersuchungen planen lassen. Seit der digitale Impfplaner in diese Anwendung integriert wurde, verzeichnen wir bis zu 4300 neue Nutzer pro Woche. "Meine Barmer" wird in der Altersgruppe von 20-40 Jahren am besten angenommen. Unsere digitalen Angebote nehmen aber auch andere Versicherte in den Blick. Die Kindernotfall-App unterstützt Eltern und Betreuungskräfte wenn unsere Jüngsten akut Hilfe benötigen. Ferner bieten wir für Kinder- und Jugendärzte das telemedizinische Konsiliararzt-System "PädExpert". Hiermit können sich Fachärzte schnell vernetzen und bei seltenen oder chronischen Erkrankungen junger Patienten Expertise austauschen. Auch die Bedürfnisse älterer oder hochbetagter Menschen werden berücksichtigt. Für sie, beziehungsweise ihre Angehörigen, bieten wir nun einen digitalen Pflegeantrag, der mit gut verständlichen Erläuterungen in nur acht Minuten ausgefüllt werden kann. Qualität und Sicherheit sind uns bei diesen Digitalprodukten oberstes Anliegen. Die Vorstellung von der Krankenkasse, die "einfach mal so" Gesundheits-Apps anbietet, ist völlig realitätsfern. Die Barmer setzt hier – wie in allen Bereichen der Versorgung – auf wissenschaftliche Evaluation und Validierung von Nutzen, Sicherheit, Qualität und Kosten. Gemeinsam mit Hausärzten untersuchen wir in der Pilotregion Hessen Apps mit Medizinproduktstatus in der ärztlichen Verordnungspraxis. Gesundheitsapps gehören zum medizinischen Versorgungsalltag, 45 Prozent der Smartphonebesitzer nutzen sie; aber wir wollen eben auch die Expertise der Ärzte vor Ort einbeziehen. Wir geben Orientierung im Angebotsdschungel und treten auf Faktenbasis für die Qualität unserer Empfehlungen ein. In Hessen engagieren wir uns an verschiedenen Stellen, um eine allgemeine Akzeptanz für digitale Gesundheitslösungen zu fördern. Ungünstig wäre, wenn zum Zeitpunkt der Einführung der ePA eHealth-Konzepte immer noch exotisch wirken. Ideal hingegen, wenn Akzeptanz und Vertrauen bereits durch gute Produkte und Lösungen gegeben ist. Digitales in einer digitalen Welt wäre dann eben wie Wasser im Wasser.
MemoreBox – Health Gaming für die Altenpflege
Die Barmer fördert bundesweit an 100 Standorten den Einsatz einer therapeutischen Computerspielkonsole als wissenschaftlich begleitetes Präventionsprojekt. Als erste Krankenkasse setzen wir damit die Vorgaben des Präventionsgesetztes mit einer bundesweiten Strategie aus dem Bereich Computerspiel um. In Hessen haben wir das Produkt im Juli und August in Bad Arolsen, Gießen, Flörsheim und Reichensachsen Wehretal gemeinsam mit der Entwicklerfirma RetroBrain vorgestellt. Seniorinnen und Senioren können das System intuitiv über Gesten und Bewegungen steuern; die Spiele sind belohnend und bringen Freude in den Pflegealltag. Die Spielekonsole kann auch aus dem Rollstuhl bedient werden, es können also alle mitmachen. Erwartbar sind therapeutische Effekte bei Beweglichkeit, Sturzprävention, Kognition und Gedächtnisleistung, sowie sozialer Interaktion. Wir hoffen, dass sich aus dieser spezifischen Kombination auch merkbare Entlastungen für das Pflegepersonal ergeben, das den Start des Projekts mit viel Engagement mitgetragen hat. Die MemoreBox ist ein gänzlich evidenzbasiertes Produkt, in das neueste Erkenntnisse aus Geriatrie, Neuropsychologie, Physiotherapie und Musiktherapie einfließen. Außerdem wird der therapeutische Nutzen im Zeitraum von einem Jahr von der Humboldt Universität Berlin, der Alice Salomon Hochschule Berlin und der Charité evaluiert. Qualität und Wirksamkeit werden nicht dem Zufall überlassen: Wir fördern also Spiele, keine Spielereien.
Länderforum 2019: Digitalisierung ländlicher Regionen
Auch im Rahmen unseres Länderforums im Mai zum Thema „Versorgung im ländlichen Raum...weiter gedacht“ wurde Digitalisierung diskutiert. Digitalisierung verbindet man vielleicht intuitiv eher mit Stadtleben, aber bei einer Abwertung ländlicher Regionen als „Provinz“ machen wir nicht mit. Wir wollen eine Digitalisierung, die alle erreicht, weil alle – unabhängig vom Wohnort – das Recht auf gute und gleiche Versorgung haben. Innovative Versorgungszentren, die in ländlichen Regionen medizinische Leistungen sinnvoll bündeln, tragen wesentlich zu einer Verbesserung der Versorgung bei. Digitale Lösungen wie Telemedizin greifen im Rahmen solcher Konzepte aber nur, wenn eine entsprechende Infrastruktur zur Verfügung steht und eine Akzeptanz, sowohl von Seiten der Patienten als auch der behandelnden Ärzte, den Einsatz mitträgt. Unsere Auswertung hat allerdings ergeben, dass zum Beispiel die Videosprechstunde 2018 in Hessen auffällig selten abgerechnet wurde. Hier muss, zur besseren Versorgung gerade ländlicher Regionen, weiter an einer werthaften Praxis für den alltäglichen Einsatz digitaler Medizindienstleistungen gearbeitet werden. Wir haben deshalb im Rahmen unseres Länderforums die Gelegenheit genutzt, um auf das Berufsbild der nichtärztlichen Versorgungsassistenzen aufmerksam zu machen. Diese relativ neue Berufsgruppe soll Ärztinnen und Ärzte bei der Versorgung und Diagnostik unterstützen, zum Beispiel durch Hausbesuche in ländlichen Regionen. Mobile, digitale Ausrüstung kann hier natürlich von hohem Nutzen sein; aber – und das ist entscheidend – die Hoheit über neue digitale Lösungen haben hier hochspezialisiert ausgebildete Menschen. Nur durch deren Methodenkompetenz und Intuition wird aus Technik auch Versorgung.
Information und Transparenz: Eine Digitalisierung aus der gesellschaftlichen Mitte
Die Gesprächsrunde „Digitalisierung im Gesundheitswesen“ für die TV-Sendereihe „Medizin transparent“ im Offenen Kanal Kassel war für uns sehr aufschlussreich. Hier wurden überwiegend skeptische Positionen vertreten und berechtigte Fragen, vor allem über Datensicherheit, gestellt. Das hat uns noch einmal gezeigt, wie wichtig es ist, mit allen Akteuren im Gesundheitswesen über Risiken und Chancen ins Gespräch zu kommen. Debatten sind für eine gute Digitalisierung notwendig und sinnvoll. Aus kritischem Dialog entsteht Fortschritt. Die Verantwortung, für einen so einschneidenden Prozess gesellschaftlicher Veränderung, leiten wir aus unserem demokratischen Versorgungsauftrag ab. Deshalb sind wir in Sachen Digitalisierung führend. Ein erster Schritt in Richtung Datensicherheit muss Datenkompetenz sein. Wer weiß, wohin welche Daten auf welchem Wege prozessiert werden, der kann bewusste Entscheidungen treffen; auch das wird zukünftig zur Gesundheitsbildung gehören. Wir werden uns deshalb in Zukunft für eine Datenkompetenz in individuellen Gesundheitsfragen, einsetzen. Gleichzeitig brauchen wir eine hochwertige digitale Infrastruktur, die sich dauerhaft an strukturelle Veränderungen anpasst. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es möglicherweise nicht, aber sehr wahrscheinlich eine Sicherheit, die in einem überzeugenden Verhältnis zu den Mehrwerten steht. Die Fragen nach der Sicherheit muss stets mahnend gestellt werden, darf uns aber auch nicht blockieren: Die Digitalisierung hat eine Chance verdient.
eHealth Kongress – Eine gute Gelegenheit zum Dialog
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens fassen wir zuallererst als gesellschaftspolitischen Prozess auf, an dem wir gestaltend teilnehmen und über den wir informieren. Zu den Mehrwerten, die in Aussicht stehen, wollen wir nicht über Abkürzungen vorpreschen. Wir wollen eine sichere Digitalisierung, die sich schrittweise entlang tatsächlicher Bedürfnisse der Menschen entfaltet und die außerdem das Gesundheitswesen auch strukturell weiterentwickelt. Digitalisierung ohne Willen zum Strukturwandel kann sehr schnell versanden und wäre eine vermeidbare Verschwendung von Ressourcen.
Eine nachhaltige Akzeptanz lässt sich nur erzielen, wenn differenzierte Informationsangebote zugänglich gemacht und genutzt werden. Hier sind alle Akteure im Gesundheitswesen gefragt, Ärztinnen und Ärzte, Interessenverbände, Politik und natürlich die Versicherten. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens muss durch eine offene Debatte geformt werden, die alle Standpunkte von Zuversicht bis Skepsis ernst nimmt. Verabsolutierungen halte ich hier für kontraproduktiv; kaum ein Vorgang im Gesundheitswesen ist vollkommen positiv oder negativ zu bewerten. Vielen Prozessen und Entscheidungen liegen Dilemmata, Schutzgüterkonkurrenzen und herausfordernde Abwägungen zugrunde, die dennoch gelöst werden müssen – so auch im Fall der Digitalisierung. Mit entsprechender Zuversicht haben wir am diesjährigen eHealth-Kongress teilgenommen, um mit den anderen Akteuren im Gesundheitswesen über Infrastrukturausbau, Strukturwandel, digitale Gesundheitsbildung und die Ziele des Koalitionsvertrages zu sprechen. Die Digitalisierung ist keine Chance, die in der Zukunft liegt, sondern eine große Verantwortung in der unmittelbaren Gegenwart. Spürbare Mehrwerte und eine Optimierung der Versorgung wollen wir deshalb so bald wie möglich. Wir stehen für einen konstruktiven Dialog immer zur Verfügung.