Das sechste, digitale Länderforum der Barmer Rheinland-Pfalz/Saarland und Hessen diskutiert neue Lösungen für den Pflegebereich. Im Fokus der Veranstaltung steht die Frage nach verbesserter Pflegequalität und attraktiveren Arbeitsbedingungen durch faktenbasierte Personalbemessung. Die Corona-Pandemie hat die Pflegebranche zusätzlich unter Druck gesetzt. Herausforderungen durch Personaldefizite haben sich verschärft. Die Arbeitsbedingungen werden von vielen als bitter empfunden. Allen Bemühungen zum Trotz steigt auch der Druck auf die Pflegequalität. „Ich hoffe, dass das Barmer Länderforum das Netz zwischen den Akteuren in Hessen und Rheinland-Pfalz verdichten kann, so dass gute Ideen Halt finden und in der partnerschaftlichen Diskussion bleiben. Ein Personalbemessungsinstrument allein zeigt nur, was zu tun wäre, eine tatsächliche Umsetzung kann nicht nur über Finanzinstrumente erfolgen. Wir möchten mit diesem Forum deshalb Dialog und Verbindlichkeit für eine bessere Pflege stärken“, sagt Martin Till, Landeschef der Barmer in Hessen.
Pflege: Qualität durch Personalbemessung
Als die WHO am 24. Mai 2019 das „Internationale Jahr der professionell Pflegenden und Hebammen 2020“ ausrief, war noch nicht klar, dass das kommende Jahr von vielen Pflegenden als annus horribilis empfunden werden würde. Die Corona-Pandemie hat den Druck auf einen angespannten Berufsstand weiter erhöht – die Krise lässt Mängel deutlicher denn je hervortreten. Unter Twitter-Hashtags wie #Pflegenotstand versammeln sich Stimmen, die in der Summe der Reformen nicht mehr die Außenlinien einer Lösung erkennen können und wollen. Personalmangel, als unfair empfundene Löhne und eine uneinheitliche Ausbildungssituation stehen in der Kritik. Nicht alles ist schlecht. Wer aber derzeit von Balkonen klatscht statt nach ganzheitlichen Möglichkeiten zur Verbesserung zu suchen, trägt eben nicht zur Lösung von Problemen bei, die nicht neu sind, aber neue Dringlichkeit erlangt haben.
Das Jahr der Pflege mahnt deshalb zum Aufbruch statt zur wohlwollenden Bilanzierung. Um den Diskurs für mehr Qualität in der Pflege zu stärken, widmete sich das sechste, digitale Länderforum der Barmer Landesvertretungen Hessen und Rheinland-Pfalz / Saarland der Frage, ob neue Instrumente zur Personalbemessung die stationäre Vollzeitpflege und Pflege im Krankenhaussektor neu strukturieren können. „Derzeit sind die Vorgaben zur Ausstattung mit Pflegepersonal nicht am Bedarf orientiert. Es sind starre Quoten und Mindestvorgaben, die wissenschaftlich kaum fundiert sind. Die Frage, wie eine gute Pflege definiert ist, ist damit noch nicht hinreichend beantwortet. Vom Länderforum soll das Signal ausgehen, dass das neue Personalbemessungsinstrument einen wichtigen Meilenstein zur weiteren Verbesserung der Situation in der Pflege bildet.“ sagt Dunja Kleis, Landeschefin der Barmer in Rheinland-Pfalz/ Saarland.
Professor Doktor Heinz Rothgang, Leiter der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen, stellt im Rahmen der Veranstaltung Forschungsprojektergebnisse zur Pflegepersonalbemessung vor. Das Podium bilden Kordula Schulz-Asche, pflegepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90 / Die GRÜNEN, Herbert Mauel, der Geschäftsführer des bpa, Doktor Markus Mai, Präsident der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz sowie Sabine Strüder, Fachbereichsleiterin Gesundheit und Pflege bei der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz.
Verbindliche Gesamtstrategie für Personalaufbau und Organisationsentwicklung in der Pflege
Das Projekt „Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen nach qualitativen und quantitativen Maßstäben gemäß §113c SGB XI“ wurde an Professor Heinz Rothgang und sein Team von der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen vergeben. Das Forschungsprojekt wurde mit „PeBeM“ abgekürzt und trägt wesentliche Desiderate bereits im Namen. Wissenschaftlichkeit und Evidenz nach qualitativen und quantitativen Maßstäben sollen in die Personalbemessung in der stationären Langzeitpflege eingeführt werden, die im Moment noch uneinheitlich und defizitär erscheint. Heinz Rothgang stellte im Rahmen des Barmer Länderforums 2020 die Methoden und Ergebnisse des Projekts vor.
Grundlage waren gezielte Beobachtungen, sogenannte Beschattungen, von 1380 Pflegebedürftigen in 62 vollstationären und sieben teilstationären Pflegeeinrichtungen zur Bilanzierung von Ist- und Soll-Zuständen. Im Ergebnis wurde festgehalten, welche Abweichungen sich in der Personalmenge, in der Arbeitszeit, im Fachkräfteeinsatz von einem vorher definierten qualitativen Ideal ergeben. Um von dieser Beobachtung verallgemeinernde Rückschlüsse auf die Gesamtheit der Pflegebedürftigen zu ziehen, entschieden sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Pflegegrade als Klassifikationen zu verwenden und Durchschnittswerte zu bilden. „Die Pflegegrade können einen großen Teil der Varianz im pflegerischen Zeitbedarf tatsächlich erklären. Pflegegrade sind insofern besser als ihr Ruf. Wir haben die Studienteilnehmer zu Pflegegraden zusammengefasst, dann die Durchschnittswerte für einen Pflegegrad gebildet und damit hat man alle Informationen, die man braucht“ erklärt Professor Heinz Rothgang. Hieraus ergebe sich ein Personalbemessungsinstrument: Aus der Anzahl bestimmter Pflegegrade in einer beliebigen Pflegeeinrichtung und der erhobenen Soll-Ist-Bilanzierung lasse sich zusätzlicher Pflegebedarf in Vollzeitstellen und Qualifikationen ableiten.
Die Anwendung des PeBeM-Instruments, dies führte Professor Heinz Rothgang aus, zeige einen deutlichen Personalmehrbedarf, aber auch eine klare Tendenz bei der anteiligen Verteilung von Qualifikationen. Bundesweit ergebe sich ein Personalbedarf von rund 100.000 Stellen in der stationären Langzeitpflege. In dieser Personalstruktur richte sich der Fachkräfteanteil nach der einrichtungsspezifischen Zusammensetzung der Pflegegrade. Höhere Pflegegrade erforderten einen erheblich höheren Fachkräfteanteil. In einer bundesdurchschnittlichen Modellpflegeeinrichtung ergebe sich allerdings ein weit überwiegender Anteil von Assistenzkräften, die den examinierten Pflegefachkräften etwa im Verhältnis 60 zu 40 gegenüberstehen. Mit diesem Instrument könne die aktuell einheitliche Fachkraftquote von 50 Prozent durch einrichtungsindividuelle, bedarfsgerechte Personalmengen und Qualifikationsstrukturen abgelöst werden.
Entscheidend, so Rothgang, sei deshalb auch die Organisationsentwicklung bei der Zusammenarbeit. Neudefinitionen der Fachkraftaufgaben seien notwendig und müssten mehr Beaufsichtigung, Evaluation und Delegation von Aufgaben an Assistenzkräfte beinhalten. Pflegekräfte müssten lernen, wieder ohne Hetze zu arbeiten. „Nach Umsetzung der Maßgaben aus dem Personalbemessungsinstrument können gut organisierte Abläufe zwischen Assistenzkräften und Pflegefachkräften die Fachkraftzeit für Fachkrafttätigkeiten um 130 Prozent erhöhen“ ergänzt Heinz Rothgang. Dieser Entwicklung sowie dem allgemeinen Personalmehrbedarf müsse auch in der Pflegeausbildung, insbesondere der Assistenzkräfte, Rechnung getragen werden. Ohne verbindliche Gesamtstrategie, kraftvolle Umsetzung in großen Schritten und neue Kompetenzverteilung könne der Einführungsprozess neuer Personalstrukturen nicht gelingen.
Neue Pflegepersonalstruktur hat das Potential sektorenübergreifend zu wirken
Durch die Podiumsdiskussion führte Stefan Schröder, Chefredakteur des Wiesbadener Kuriers. Herbert Mauel äußerte sich optimistisch zum Impulsvortrag von Professor Rothgang. Es habe zwar nie mehr Pflegebedürftige als zum jetzigen Zeitpunkt gegeben, aber auch die Personalausstattung sowie der Ausbildungsstand hätten historische Höchstmarken erreicht. Auch für Mauel steht allerdings fest: „Wir wollen mehr Personal, wir brauchen mehr Personal und wir brauchen für alle Pflegebedürftigen ein verlässliches Angebot.“
MdB Kordula Schulz-Asche sprach den Projektergebnissen hohes Potential zu. Das Projekt entspreche einer seit langem bestehenden politischen Forderung nach wissenschaftlicher Bewertung der Pflegestrukturen. „Ich glaube, das Projekt ist eine sehr gute Grundlage für die bundesgesetzliche Rahmengebung“, ergänzt Schulz-Asche. Es sei notwendig, das gesamte Pflegeausbildungssystem durchzustrukturieren, für Fachkräfte brauche es zukünftig neue Qualifikationsstufen, die veränderte Arbeitswelten auch abbilden. Wichtig sei auch, dass etwaige Mehrkosten nicht von den Pflegebedürftigen allein getragen werden müssen.
Doktor Markus Mai ist überzeugt, dass die komplexen Systeme, die durch neue Personalbemessung entstehen, auch neue Führungskonzepte brauchen. „Pflegefachpersonen müssen in die Führung von Teams gehen“, sagt Mai. Der zusätzliche Koordinationsaufwand werde nicht unerheblich sein und müsse in der Studie reflektiert werden. Denkbar seien sogar freiberufliche Pflegefachkräfte deren Verantwortung in fachlichen Belangen über die Weisungen von Heimleitungen oder Geschäftsführungen hinausgeht.
Sabine Strüder nimmt im Rahmen der Diskussion die Perspektive der Pflegebedürftigen ein. Pflegequalität sei eine Frage der Lebensqualität der Pflegebedürftigen – die Bezugspflege müsse gewährleistet bleiben auch wenn sich der Personalmix in Pflegeeinrichtungen verändert.
Unter den Diskutierenden bestand Einigkeit, dass das beschriebene Personalbemessungsinstrument auch Potential für den Krankenhaussektor hat. Fallpauschalen würden hier pflegerische Leistungen nicht adäquat abbilden, so Kordula Schulz-Asche. Es sei notwendig, auch im Krankenhaus genauer hinzuschauen; auch hier sei Bezugspflege durch neue Formen sektorenübergreifender Zuständigkeit und Zusammenarbeit ein wichtiges Ziel.
Ein „weißer Elefant im Raum“ sei laut Moderator Stefan Schröder die Frage, ob Krankenhausschließungen zu förderlichen Personalkonzentrationen in der Pflege führen können. Doktor Mai sieht hierin keine pauschal geeignete Lösung, plädiert aber für innovative Zwischenlösungen in der Krankenhausstruktur. Herbert Mauel sieht bei den Krankenhäusern im Gegensatz zu Pflegeeinrichtungen keine vergleichbare Auslastung. Bei mangelnder Personalausstattung könne ein Krankenhaus von Patientinnen und Patienten gewechselt werden, bei Pflegeeinrichtungen gebe es bereits Wartelisten. Schulz-Asche ergänzt hier, die Pflegesituation im Krankenhaus lasse sich nicht allein über Finanzinstrumente verbessern. Die Politik müsse zudem beachten, dass die geburtenstarken Jahrgänge zeitnah die Bedarfe im Gesundheitswesen steigen lassen können. Flexiblere, bundeseinheitliche Ausbildungs- und Weiterbildungsstrukturen für die Pflegebranche können hier eine Perspektive bieten.
Konsens unter den Diskutierenden besteht ferner darin, dass die sektorenübergreifende Versorgung von der Frage nach Pflegequalität nicht trennbar sei. Kordula Schulz-Asche fasst die Debatte als pointierten Appell zusammen: „Ich sehe die Pflege, sowohl in der Altenpflege als auch in der Krankenpflege als einen der zentralen Berufe an, der patientenorientiert die Interventionen von Ärztinnen und Ärzten über die Sektorengrenzen des Gesundheitswesens zusammenbringen kann.“