Von Claudia Loss
Bei allen Beteiligten im Gesundheitssystem steht die Gesundheit und Sicherheit der Patientinnen und Patienten an erster Stelle. Das gilt für Ärztinnen und Ärzte, für Pflegekräfte, für Therapeutinnen und Therapeuten, für Krankenhäuser und Pflegeinrichtungen, für Krankenkassen und auch für den Gesetzgeber.
Ein Grundpfeiler dafür ist eine Dokumentation, die Sicherheit und Qualität in der Versorgung der Patienten gewährleistet und eine korrekte Abrechnung der erbrachten Leistungen ermöglicht. Ein weiterer Grundpfeiler ist ausreichendes, gut ausgebildetes und engagiertes Gesundheitspersonal. Von dem einen haben wir zu viel, vom dem anderen zu wenig.
Ich bin selbst Pflegekraft auf einer Station für geriatrische Frührehabilitation und kenne die Arbeit im therapeutischen Team und damit verbunden auch die daran hängende Dokumentation. Ich habe beobachten müssen, dass der Dokumentationsaufwand in den Jahren immer weiter zugenommen hat. Immer mehr Nachweise müssen erbracht werden, ohne dass es einen spürbaren positiven Effekt für die Patientenversorgung bewirkt hätte.
Ein Beispiel aus der Praxis: Wenn ich, entsprechend der aktuellen Pflegeuntergrenze zehn geriatrische Patienten versorge, dann muss ich zu jedem Einzelnen einen aktuellen Fließtext verfassen. Dazu kommen Skalen, die aktuelle Pflegeplanung, gegebenenfalls eine Wunddokumentation, das Führen von Bilanzprotokollen, von Positionsprotokollen, eventuelle Isolationsdokumentation usw. Jede kleinste Maßnahme wird aufgelistet. Das allein ergibt schon viele Seiten am PC. Obendrauf kommen dann noch die tägliche Evaluierung des Pflegeprozesses und das Aufnahme- und Entlass Management.
Seit dreieinhalb Jahren bin ich nun auch gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion Hamburg. In dieser Funktion konnte ich eine – meiner Meinung nach dringend notwendige – Debatte über den Umfang und die Art der Dokumentation im Gesundheitswesen anstoßen.
Ich habe Vertreterinnen und Vertreter der Krankenkassen, der Hamburger Sozialbehörde und des Medizinischen Dienstes getroffen, um mit ihnen abzugleichen, welche Daten sinnvoll und aus welchen Gründen erhoben werden sollten und welche tatsächlich dokumentiert werden. Wir haben dabei mehrfach festgestellt, dass Daten dokumentiert werden, deren Nutzen nicht mehr nachvollzogen werden konnte. Bei vielen Punkten konnte niemand erklären, weshalb sie heute dokumentiert werden müssen, wer diese Dokumentation beauftragt hatte, wofür diese verwendet wird und welchen Nutzen sie für die Patienten hat.
Dazu werden die gleichen Daten an unterschiedlichen Stellen immer wieder erhoben. Das führt zur Frustration beim Personal, zu Irritation bei Patienten und Vertrauensverlust in die Organisationsfähigkeit der Krankenhäuser, wenn immer wieder die gleichen Fragen von unterschiedlichen Berufsgruppen gestellt werden. Und wenn am Ende in einer Akte an einer Stelle ein einziges Handzeichen fehlt und der ganze Fall deshalb von den Kassen nicht erstattet wird, entsteht beim medizinischen Personal zusätzlicher Druck, der den Fokus von der Arbeit am Menschen nimmt. Die Pflegenden haben immer mehr das Gefühl, dass ihrer Arbeit nicht mit verdienter Wertschätzung, sondern zuerst mit Misstrauen begegnet wird.
Es ist mir bei diesem Diskurs gelungen, einige Akteurinnen und Akteure aus dem Gesundheitswesen für eine Hospitation auf meiner Station zu gewinnen. Für Außenstehende ist es oft schwer, sich vorzustellen, wie der Alltag einer Pflegekraft im Krankenhaus aussieht und welchen Raum die Dokumentation dabei einnimmt.
Ich würde mir wünschen, dass solche Hospitationen Schule machen. Meiner Meinung nach wäre das sehr hilfreich für das Verständnis zwischen denen, die am Schreibtisch entscheiden, wie und was dokumentiert werden soll, und denen, die diese Entscheidungen in der Praxis umsetzen. Das soll keine despektierliche Bewertung von Büroarbeit sein. Ich möchte damit nur deutlich machen, dass ein anderer Blickwinkel sehr oft eine völlig andere Bewertung von Maßnahmen zur Folge hat und dass ich mir wünsche, dass der Blickwinkel der praktischen Arbeit bei solchen Maßnahmen öfter berücksichtigt wird.
Wir müssen uns grundsätzlich fragen, wieviel Dokumentation eine Pflegekraft sinnvoll durchführen kann. Uns muss dabei klar sein, dass man einen Tag in der Pflege nicht am Reißbrett planen kann, weil jeden Tag unterschiedliche Patienten mit unterschiedlichen Bedürfnissen versorgt und Pflegeprozesse aufgrund von unplanbaren Ereignissen oft unterbrochen werden. Dazu kommt, dass die Unterschiede in der Dokumentation zwischen Patientenorientierung und Abrechnungsrelevanz und die direkte Arbeit am Menschen eine hohe Flexibilität in der Umsetzung erfordern.
Für mich ist es essenziell, dass wir in Zukunft die Aufgaben einer Pflegedokumentation priorisieren und verschlanken. Dabei kann auch Digitalisierung hilfreich sein, wenn sie die Perspektive und Erfahrung von Pflegekräften mit einbezieht. Wir brauchen ein Vertrauen der Handelnden im Gesundheitswesen ineinander, denn Misstrauen hat an vielen Stellen erst dazu geführt, dass der Dokumentationsaufwand so immens geworden ist.
Die Hamburgische Bürgerschaft hat beschlossen, eine Interventionsstudie durchzuführen. Es soll exemplarisch überprüft werden, welche Dokumentationsaufwände für die Genesung und Gesunderhaltung der Patienten wichtig sind, welche der Finanzierung der Einrichtungen der stationären Pflege und der Krankenhäuser auf diese Weise dienen und welche Ansätze und Potenziale es gibt, Dokumentationsaufwände auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Mit den Ergebnissen dieser Studie können und wollen wir den Bund mit fundierten Daten in seinen Entscheidungsprozessen unterstützen.