Die kontroverse Debatte in der Deutschen Ärzteschaft über Digitalisierung im Gesundheitswesen ist seit Jahren geprägt von – teils irrationalen – Ängsten und Befürchtungen und Missverständnissen im Hinblick auf den Digitalisierungsprozess an sich.
Gelebte Erfahrung mit Digitalisierung, außer den zahlreichen erst durch digitale Prozesse möglichen Diagnostik- und Behandlungsverfahren, gibt es derzeit vor allem im Administrations- und Abrechnungsbereich mittels Krankenhausinformations- (KIS) und Praxisverwaltungssystemen (PVS). Beides trägt kaum oder nur mittelbar zur Verbesserung der unmittelbaren Patientenversorgung bei und wird, vor allem von Krankenhausärzten, als Übertragung von Dokumentations- und Verwaltungstätigkeit in ihrem Arbeitsbereich erlebt. Von weiteren Digitalisierungsschritten befürchtet man eher eine weitere Be- als Entlastung.
Die Diskussion der vergangenen Jahre drehte sich vor allem um den Ersatz bzw. die Weiterentwicklung bestehender, bisher analoger Verfahren der Kommunikation zwischen Ärzten untereinander und mit ihren Patienten. Die elektronische Speicherung von Notfalldaten und Medikationsplänen auf der elektronischen Gesundheitskarte (eGK), der elektronische Versand von Arztbriefen über die Telematikinfrastruktur (TI), Videokonsultation zwischen Patient und Arzt und der gemeinsame Zugriff auf ePatientenakten wird, trotz fortbestehender Skepsis und Proteste, in absehbarer Zeit selbstverständlicher Bestandteil ärztlichen Tuns sein. Die aktuellen Entscheidungen und Beschlüsse des Deutschen Ärztetages in Freiburg im Mai dieses Jahres (s. u.) lassen eine zunehmende Einsicht in diese zwangsläufige Entwicklung erwarten.
Das eigentlich spannende zukünftige Feld der Digitalisierung, mit teilweise disruptiven Elementen im Hinblick auf die Rollenverteilung zwischen Arzt und Patient, wird durch neue diagnostische und therapeutische Verfahren mittels Sensoren, Big Data und Künstlicher Intelligenz gekennzeichnet sein. Die bisherige absolute Dominanz des Arztes bei der Erkennung und Erfassung von Krankheitszuständen und die Zuordnung von Symptomen zu definierten Krankheitsentitäten verlagert sich potenziell in Richtung der Informationserfassung und -verarbeitung in der Hand des Patienten, vielfach bereits im Vorfeld erkenn- und körperlich wahrnehmbarer Erkrankungssymptome.
Weltweit engagieren sich Start-up-Unternehmen in der Entwicklung dafür verwertbarer Produkte. Multinationale Unternehmen der Informations- und Kommunikationsbranche (IKT) wittern neue lukrative Absatzfelder und Geschäftsmodelle. Noch sind die Anwendungsfelder und Möglichkeiten in ihrer ganzen Konsequenz nur in Ansätzen erkennbar. Die möglichen Konsequenzen werden aber durchaus von Teilen der Ärzteschaft ernsthaft diskutiert und in Überlegungen zu künftig neuen Berufsbildern überführt. Exemplarisch die Aussage eines Allgemeinmediziners in einer der zahlreichen Diskussionsrunden: "Sobald ich erkenne, dass IBM-Watson die besseren Diagnosen macht, werde ich meinen ärztlichen Schwerpunkt komplett verlagern in Richtung des Lotsen und Navigators meiner Patienten im Hinblick auf die daraus erwachsenden Konsequenzen und Behandlungsoptionen."
Die Kernaussagen des Ärztetages im Einzelnen:
- Appell an Gesetzgeber und Selbstverwaltung: Erarbeitung einer Digitalisierungsstrategie (ethischer Umgang mit neuem Wissen, Rolle digitaler Methoden und Verfahren, Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung etc.). Welches Gesundheitswesen wollen wir? Welches Verständnis des Patient-Arzt-Verhältnisses haben wir in Zukunft?
- Digitalisierung im Gesundheitswesen bedeutet hohe Investitionen auf Seiten der medizinischen Einrichtungen. Die notwendigen Mittel müssen – wie bei anderen Infrastrukturprojekten auch – aus Steuermitteln zur Verfügung gestellt werden und nicht aus Mitteln der Krankenversicherung.
- Medizinische Anwendungen der elektronischen Gesundheitskarte und der Telematikinfrastruktur (wie Notfalldaten, ePatientenakte, Telemedizin) müssen zügig zur Verfügung gestellt werden. Bei der Entwicklung und Einführung dieser Instrumente muss gewährleistet sein, dass sie Nutzen für die Patientenbehandlung stiften, anwenderfreundlich entwickelt und sicher sind. Dabei ist eine umfangreiche Begleitforschung unerlässlich.
- Die Ärzteschaft sieht die Notwendigkeit, die ärztliche Kompetenz auf dem Gebiet der digitalen Gesundheitsversorgung zu stärken. Sie beschließt daher die Entwicklung von spezifischen Lehrinhalten für die ärztliche Aus-, Weiter- und Fortbildung.
- Bezogen auf die Verbreitung von Apps in den Bereichen Fitness, Wellness, Gesundheit wird seitens der Ärzteschaft eine Fokussierung auf medizinischen Apps als notwendig erachtet. Wenn Apps Informationen als Grundlage von ärztlichen Entscheidungen liefern bzw. diese über Algorithmen aufbereiten, sind sie als Medizinprodukte zuzulassen. Auch eine Positivliste sinnvoller medizinischer Apps wurde befürwortet.
- Die Ärzteschaft spricht sich dafür aus, Modellversuche, die eine ausschließliche Fernbehandlung ermöglichen, zuzulassen. Ziel ist es, Möglichkeiten aber auch Grenzen der Patientenbehandlung ausschließlich über Kommunikationsmedien neu zu justieren.
- Ärztinnen und Ärzte wie Patientinnen und Patienten müssen darauf vertrauen können, dass die ärztliche Schweigepflicht auch bei der Nutzung der digitalen Anwendungen gewährleistet ist. Patientinnen und Patienten müssen darauf vertrauen können, dass ihre Gesundheitsdaten vor dem Zugriff unberechtigter Dritter geschützt sind.