Hamburg, 17. Januar 2019 – Die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von pflegenden Angehörigen im aktuellen Barmer-Pflegereport zeigen deutliche Alarmsignale: Allein in Hamburg sind nach Hochrechnung der Barmer mehr als 2.000 Angehörige von der Pflege erschöpft und am Ende ihrer Kräfte. Sie stehen kurz davor, ihren Dienst einzustellen. „Die pflegenden Familienmitglieder sind ein sehr wichtiger Pfeiler unseres Pflegesystems. Mit ihrer Motivation aus Liebe und Pflichtbewusstsein leisten sie in der Gesellschaft einen unschätzbaren Dienst. Oft jedoch kommen dabei ihre eigenen Bedürfnisse zu kurz und sie werden krank“, beschreibt Frank Liedtke, Landesgeschäftsführer der Barmer in Hamburg, die Problemlage.
In Hamburg beziehen rund 63.100 Personen Leistungen der Pflegeversicherung. 44 Prozent (27.800) von ihnen werden mehrheitlich von pflegenden Angehörigen umsorgt. Für die Angehörigen ist das eine große Verantwortung und viel Arbeit. Die Familie, Deutschlands größter Pflegedienst, pflegt mit großem Engagement ihre Angehörigen. In zwei Drittel aller Fälle übernehmen Frauen im Alter zwischen 50 bis 70 Jahren die Pflege.
Leben in der eigenen Häuslichkeit bleibt Favorit
Eine große Anzahl von Menschen lebt trotz ihrer Pflegbedürftigkeit in der eigenen Häuslichkeit, in Hamburg sind es 46.800 und damit fast drei Viertel (74 Prozent) der Bedürftigen. Etwa 40 Prozent von Ihnen werden durch einen ambulanten Pflegedienst betreut, rund 60 Prozent erhalten Pflegegeld. Meist stehen ihnen Angehörige oder Bekannte pflegend zur Seite. „Durchschnittlich beansprucht die Pflege täglich neun Stunden und dauert rund zwei bis sieben Jahre. Für die Pflegenden ist dieser Einsatz oftmals eine hohe körperliche und psychische Belastung und stellt Betroffene vor große organisatorische Herausforderungen“, beschreibt Frank Liedtke das Problem der Überforderung von pflegenden Angehörigen.
Pflege bestimmt bei 85 Prozent der Betroffenen tagtäglich das Leben
Laut Barmer-Pflegereport gibt es in Deutschland rund 2,5 Millionen pflegende Angehörige, darunter rund 1,65 Millionen Frauen. Nur ein Drittel aller Betroffenen geht arbeiten, jeder Vierte hat seine Arbeit aufgrund der Pflege reduziert oder ganz aufgeben müssen. Die Befragung macht deutlich, dass pflegende Angehörige recht schnell an ihre Grenzen kommen, Ruhephasen selten sind und die Kontakte zu Freunden und Bekannten oft zu kurz kommen. Fast 40 Prozent von ihnen fehlt Schlaf, 30 Prozent fühlen sich in ihrer Rolle als Pflegende gefangen, und jedem Fünften ist die Pflege eigentlich zu anstrengend.
Belastung schlägt auch auf die Gesundheit
Dauerhafte Belastung und hoher Verantwortungsdruck schlagen auf die Gesundheit. Pflegende Angehörige sind vergleichsweise häufiger krank als andere. So leiden in Hamburg knapp die Hälfte von Ihnen unter Rückenbeschwerden und bis zu 28 Prozent unter psychischen Störungen. Bei Personen, die niemanden pflegen, trifft dies nur auf rund 42 Prozent beziehungsweise 22 Prozent zu.
Je kränker und belasteter Angehörige in der Pflege sind, desto eher informieren sie sich über Unterstützungsmöglichkeiten. Unter denjenigen, die noch bei guter Gesundheit sind, kennen rund 70 Prozent das Angebot einer Kurzzeitpflege nicht oder haben keinen Bedarf dafür. Bei schlechterer Gesundheit liegt der Anteil nur bei 58 Prozent. Dieser immer noch recht hohe Anteil ist bedenklich, denn Hilfe sollte so früh wie möglich genutzt werden damit sie am besten wirkt. Dazu sei nicht nur eine umfassende, frühzeitige Beratung durch Pflegeexperten wichtig, sondern auch ein niedrigschwelliger Zugang zu den Unterstützungsleistungen.
„Es ist es wichtig, dass Pflegepersonen nicht nur für ihren Angehörigen, sondern auch für sich selbst Hilfe bekommen. Um ihnen den Alltag zu erleichtern, bietet die Barmer für ihre Versicherten kostenlos das Seminar „Ich pflege – auch mich“ an. In mehreren Modulen lernen die Teilnehmer unter anderem, wie sie sich trotz der anstrengenden Pflegesituation entlasten können“, erläutert Frank Liedtke.
Hilfsangebote aus Qualitäts- und Kostengründen nicht genutzt
60 Prozent der pflegenden Angehörigen wünschen sich Unterstützung bei der Pflege. Dennoch wurden Kurzzeit-, Tagespflege oder Betreuungs- und Haushaltshilfen eher selten in Anspruch genommen.
Die vergleichbar seltene Inanspruchnahme wird von den Befragten neben dem fehlenden Angebot hauptsächlich mit Zweifeln an der Qualität und den Kosten begründet. „Es ist alarmierend, dass fast jeder fünfte der pflegenden Angehörigen Zukunfts- und Existenzängste hat. Deshalb ist es auch richtig, dass die Bundesregierung die Kurzzeit- und Verhinderungspflege in einem jährlichen Entlastungsbudget für Pflegebedürftige zusammenführen möchte“, sagt Liedtke. „Wir begrüßen zudem, dass eine weitere Erleichterung für Pflegebedürftige ab Pflegegrad drei seit dem 1. Januar in Kraft getreten ist: für diese Schwerkranken wird für Krankenfahrten zum Arzt keine Genehmigung der Krankenkasse mehr nötig sein. Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung weniger Bürokratie“, betonte Liedtke.
Unternehmen schlecht auf pflegende Arbeitnehmer vorbereitet
Die Ergebnisse einer Studie der Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) zeigen, dass betriebliche Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Pflege in über der Hälfte der betreffenden Unternehmen (58 Prozent) weder etabliert noch geplant sind. Für 43 Prozent der Teilnehmer sind die Umsetzung solcher Angebote generell eher zu aufwändig und andere Fragen wichtiger; etwa ein Drittel (34 Prozent) findet entsprechende Maßnahmen zu teuer.
Frank Liedtke: „Die Unternehmen sind in der Verantwortung, ihre Mitarbeiter bei der Bewältigung der Pflege zu unterstützen. Ein gutes Angebot bietet die Initiative "Hamburger Allianz für Familien", die in Kooperation mit dem PME-Familienservice betriebliche Vereinbarkeitslotsen als erste Ansprechpartner bei Fragen zu Pflege und Beruf ausbildet.“ Frauke Zimmermann, die als betriebliche Sozialberaterin und Vereinbarkeitslotsin Pflege und Beruf bei der Beiersdorf AG tätig ist, ergänzt: „Neben der Information über die Vielfalt der Angebote und der individuellen Beratung der Betroffenen sind die Unternehmenskultur und die Sensibilisierung für die Situation pflegender Angehöriger von großer Bedeutung.“
Eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Pflege sowie der eigenen Interessen und Gesundheit von pflegenden Angehörigen ist das Gebot der Stunde, damit Deutschlands größter Pflegedienst nicht zusammenbricht.
Pflegereport 2018 zum Herunterladen: www.barmer.de/p010517.