Frau Dr. Wessel, Sie sind in der Hauptstadt-KV für das Thema Digitalisierung verantwortlich. Warum haben Sie diese Verantwortung übernommen und würden Sie das wieder tun?
Wessel: Ich habe das Thema Digitalisierung gewissermaßen von meinen Vorgängerinnen, Frau Dr. Stennes und Frau Dr. Gaber, geerbt. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist super interessant. Die Zukunft liegt ein Stück weit darin. Zudem hat es auch eng mit den Themen Nachhaltigkeit und Fachkräftebindung zu tun.
Im Showroom können Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten mit ihrem Praxispersonal erleben, wie eine digitale Praxis funktioniert. Wie ist die Idee entstanden, einen solchen Showroom einzurichten?
Wessel: Die Kassenärztliche Vereinigung in Westfalen-Lippe hatte bereits einen ähnlichen Showroom. So etwas wollten wir auch für Berlin haben. Erste Planungen hierfür gab es schon von meiner Vorgängerin Frau Dr. Stennes. Dann haben den Hauptteil der Arbeit Frauen Nauendorf von der Stabsstelle Digitalisierung unter der Führung von Frau Dr. Gaber geleistet. Erst das letzte Jahr der Fertigstellung habe ich begleitet. Den DEMO-Showroom haben wir aus Mitteln des Haushalts der KV aufgebaut. Aus den Fragen und Hinweisen der Kolleginnen und Kollegen lernen wir noch mehr über die Bedarfe und können unser Angebot ständig weiterentwickeln.
Mit dem Digital-Gesetz soll durch digitale Lösungen der Behandlungsalltag für Ärztinnen und Ärzte sowie für Patientinnen und Patienten vereinfacht werden. Wie schätzen Sie die Hemmnisse und die Akzeptanz bei der Umsetzung in Berlin ein?
Wessel: Wenn digitale Prozesse funktionieren, sind sie natürlich eine Erleichterung. Aber zunächst müssen die Praxen investieren zum Beispiel in neue Software oder Kartenlesegeräte. Leider sind viele neue Anwendungen noch fehleranfällig. Die Einarbeitung mit den neuen Programmen und die Lösung anfänglicher Probleme kostet viel Arbeitszeit und bindet Arbeitskräfte. Die Praxen in Berlin sind auf einem sehr unterschiedlichen Digitalisierungsniveau.
Mit welchen Argumenten versuchen Sie die Praxen dafür zu motivieren, trotz dieser Hemmnisse, den Weg der Digitalisierung einzuschlagen, auch über das hinaus, was der Gesetzgeber verlangt?
Wessel: Ein wichtiges Argument ist, dass Digitalisierung die Work-Life-Balance stärkt. Wenn ich digitalisiere, kann ich einer Medizinische Fachangestellten (MFA) in der Zukunft zum Beispiel anbieten, auch im Homeoffice die beim KI-basierten Telefonassistenten eingegangenen Anrufe abzuarbeiten. Die Bewältigung der vielen Telefonanrufe neben den eingehenden Mails sind im Praxisalltag schon eine Herausforderung. Die Abläufe in der Praxis können mittels Digitalisierung effizienter gestaltet und Überstunden vermieden werden. Die Digitalisierung bietet hier ganz sicher noch viel Potenzial. Um dieses nutzen zu können, müssen wir am Ball bleiben.
Wenn Sie auf die Qualität und Effizienz der Patientenversorgung blicken – innerhalb einer Praxis aber auch in der gesamten Versorgung – welche Verbesserungen erwarten sie von der Digitalisierung?
Wessel: Wenn wir über die Sektoren sprechen, also die Kommunikation zwischen Arztpraxen und Krankenhäusern, läuft da immer noch viel über die Post. Wir warten zum Beispiel noch auf den Entlassbrief aus dem Krankenhaus, wenn die Patientinnen und Patienten längst wieder bei uns in der Praxis sind. Oder anders herum: die Patienten bekommen den Brief in die Hand gedrückt und haben ihn womöglich beim Praxisbesuch vergessen oder irrtümlich nicht dabei, da sie davon ausgehen, dass uns dieser auch bereits vorliegt. Hier wäre es wirklich besser, wenn die Krankenhäuser direkt, digital und ohne Zeitverzögerung über KIM (Kommunikation im Medizinwesen) mit den Ärztinnen und Ärzten kommunizieren würden, die eingewiesen haben und weiterbehandeln. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass alle in den Krankenhäusern eingesetzten Systeme interoperabel mit unseren sind.
Sind andere Länder hier weiter? Oft wird gesagt, Deutschland hinke bei der Digitalisierung hinterher.
Wessel: Ja, warum das so ist, weiß ich nicht. Aber schauen Sie zum Beispiel nach Dänemark. Dort bekommen die Menschen schon ab ihrer Geburt eine digitale Identität, die überall gilt und über das gesamte Leben hinweg gleichbleibt. Da kann man bei einem 60-Jährigen noch nachschauen, wie das Geburtsgewicht war oder welche Erkrankungen schon seit der Kindheit bestehen. Bei uns haben Patientinnen und Patienten überall eine andere Nummer: Bei der Krankenkasse eine Versichertennummer, in der Gynäkologischen Praxis eine andere Patientennummer als in der Hausarztpraxis, und im Krankenhaus hat jeder Bereich eine eigene Registrierungsnummer. Hier muss sich in Deutschland noch viel weiterentwickeln.
Ob ePA, eRezept oder DiGA – wer vor 20 Jahren Medizin studiert hat, konnte sich sicher noch nicht vorstellen, mit welcher Dynamik digitale Anwendungen jetzt in die medizinische Versorgung kommen. Mit welchen Formaten unterstützen Sie die Berliner Ärztinnen und Ärzte dabei, digital auf dem aktuellen Stand zu bleiben?
Wessel: Wir laden zu Informationsveranstaltungen ein und begleiten Kolleginnen und Kollegen nach dem Prinzip „Train the Trainer“. Oft gibt es in den einzelnen Fachbereichen Ärztinnen und Ärzte, die schon sehr weit sind und in Veranstaltungen darüber informieren, welche Prozesse sie in ihrer Praxis digitalisiert haben, welche Erfahrungen sie damit gemacht haben und wo die Vor- und Nachteile liegen. Außerdem bin ich fest entschlossen, die Ausbildung der MFAs zu erweitern. Wir müssen dafür sorgen, dass das Berufsbild der MFA vielschichtiger und interessanter wird. Die Digitalisierung kann dazu beitragen, dass der Beruf attraktiver wird. Und umgekehrt interessierten sich MFA stark für die Digitalisierung. Sie kennen die Praxisabläufe am besten und wissen, wo es Verbesserungspotenzial gibt. Wir haben in der KV einen MFA-Tag durchgeführt, der sehr erfolgreich war.
Die Barmer informiert ihre Versicherten derzeit über die Einführung der elektronischen Patientenakte einschließlich der Widerspruchsmöglichkeit. Wenn Patientinnen und Patienten ihren Rat wünschen, was antworten Sie?
Wessel: Ich würde dazu raten, nicht zu widersprechen und darum bitten, nichts aus der ePA zu löschen und allen Behandelnden den Zugriff auf die Daten zu ermöglichen. Es ist wichtig, dass wir Ärztinnen und Ärzte einen gesamten Überblick haben. Wenn ich als Gynäkologin zum Beispiel nichts über verordnete Psychopharmaka weiß und meiner Patientin die Pille verschreibe, ist es möglich, dass sie schwanger wird. Manche Psychopharmaka können die Wirkung der Anti-Baby-Pille nämlich beeinträchtigen.