Der Pflegenotstand in Bayern wird nach neuesten Hochrechnungen der Barmer brisanter als zuletzt angenommen. Bis zum Jahr 2030 werden 4.000 Pflegekräfte mehr benötigt, als bisher berechnet wurden. Mit rund 751.000 Pflegebedürftigen wird es im Freistaat insgesamt bis zu 135.000 Betroffene mehr geben, als bisherige Hochrechnungsmethoden ermittelt haben. Das geht aus dem aktuellen Pflegereport der BARMER hervor. Die Analysen zeigen einen alarmierenden Zukunftstrend und die Zeit drängt. Bereits heute fehlen Pflegekräfte. "Wir müssen die Herausforderungen in der Pflege rasch angehen und dabei den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Denn eine hohe pflegerische Qualität ist für Pflegebedürftige elementar. Für eine patientenorientierte, hochwertige Versorgung muss die Pflege qualitativ und digital weiterentwickelt und der Fachkräftemangel entschlossen bekämpft werden", fordert Professorin Dr. Claudia Wöhler, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Bayern. Aufgrund der Brisanz des Themas, sei es auch der Schwerpunkt der Online-Veranstaltung "Politik und Gesundheit im Gespräch" gewesen. Diese fand am 23. März statt. Mit dabei waren hochkarätige Expertinnen und Experten aus Politik und Wissenschaft und Gesundheitswesen. Ansatzpunkte für eine sichere und hochwertige Pflege wurden diskutiert. Vor allem die Digitalisierung, Verbesserung der Pflegeausbildung und der Attraktivität des Pflegeberufes kamen zur Sprache.
Auf dem Weg in eine humanitäre Katastrophe
"Der Pflegereport verdeutlicht einmal mehr, dass wir uns auf dem Weg in eine humanitäre Katastrophe befinden. Die jetzt schon eklatante Versorgungslücke klafft weiter auf und dem können wir nur gegensteuern, wenn dem Applaus der letzten Monate mehr folgt als warme Worte und polternden Bonusforderungen", sagt Andreas Krahl, MdL Sprecher für Pflegepolitik und Seniorinnen und Seniorenpolitik Bündnis 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag. "Pflegeberufe müssen wieder attraktiver werden, Pflegende müssen in allen Berufsbildern von ihrer Arbeit gut leben können und brauchen Arbeitsbedingungen, die eine gute Work-Life-Balance und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erlauben", fordert Krahl. Mit einem Personalbemessungsinstrument könne hier ein dringend erforderlicher Schritt gegangen werden. Den hohen Quoten der Abbrecherinnen und Abbrecher in der Pflegeausbildung müsse mit Qualität und vor allem Zeit begegnet werden.
Strukturen neu denken und Pflegeberufe attraktiver machen
Neben Herausforderungen bei der Finanzierung müsse der Blick auch auf die Frage gerichtet werden, wer künftig die Pflegebedürftigen betreuen soll. "Wir müssen die Weichen für eine verlässliche und qualitativ hochwertige Pflege stellen. Außerdem muss es gelingen, mehr Menschen für eine pflegende Tätigkeit zu begeistern", so die Barmer Landeschefin Claudia Wöhler. Den aktuellen Reportergebnissen zufolge würden in Bayern im Jahr 2030 etwa 146.000 Pflegekräfte gebraucht, darunter 67.000 Pflegefachkräfte, 27.000 Pflegehilfskräfte und 52.000 Pflegehilfskräfte ohne Ausbildung. Dabei sei im stationären Bereich die vollständige Umsetzung des Personalbemessungsverfahrens noch gar nicht berücksichtigt. Der Pflegeberuf müsse vor diesem Hintergrund deutlich attraktiver werden. Daher sei es richtig, geteilte Dienste abzuschaffen und den Anspruch auf familienfreundliche Arbeitszeiten einzuführen. Außerdem müsse mehr getan werden, um die physischen und psychischen Belastungen dieses enorm anspruchsvollen Berufes abzufedern. Im Rahmen der Veranstaltung stellte Professor Dr. Peter Bauer, Patienten- und Pflegebeauftragter der Bayerischen Staatsregierung, fest: "Die Strukturen der Pflege müssen neu gedacht werden". Durch Modernisierung und Änderung könne auch die Attraktivität gesteigert werden. Vor allem das Potential der Digitalisierung ist noch lange nicht ausgeschöpft. Professor Dr. Andrew Ullmann, Obmann im Gesundheitsausschuss und Mitglied der FDP im Deutschen Bundestag, bezeichnete sie als "ein Ergänzungstool unserer Arbeit in der Pflege". Dabei könne die Digitalisierung die Pflegenden entlasten. Sie sollte aber auf keinen Fall die Menschen ersetzen oder ihnen gar zusätzliche Arbeit bereiten. Andreas Krahl sah die Digitalisierung vor allem auch in Bezug auf die Entbürokratisierung der Pflegedokumentation als zukunftsweisend. Diese kann durch digitale Mittel vereinfacht werden. Auf eine Dokumentation verzichten sollte man nämlich auf keinen Fall, denn "if you can not name it, you can not claim it" erklärte Krahl.
Mehr Nachwuchs für die Pflege gewinnen
Aus Sicht der Barmer muss der bereits bestehende Arbeitskräftemangel in der Pflege weiter entschlossen bekämpft werden. Auch Bernhard Seidenath, Vorsitzender des Ausschusses für Gesundheit und Pflege und Gesundheitspolitischer Sprecher der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag, betonte bei "Politik und Gesundheit im Gespräch" diesen Zusammenhang. "Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir müssen in die Umsetzung kommen". Im Fokus müsse dabei auch die Ausbildung stehen. Mit der seit 2020 bundesweit einheitlichen Pflegeausbildung und dem Wegfall des Schulgeldes für Auszubildende in der Altenpflege seien bereits wichtige erste Schritte getan. "Es muss allerdings weiter gezielt für die Ausbildung in der Pflege geworben werden", sagt Wöhler. Eine angemessene Bezahlung sei hier nur ein Schritt. Ebenso wichtig seien flexiblere Arbeitszeitmodelle, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern und die Zielsetzung, dass Pflegeeinrichtungen zu attraktiven Arbeitgebern werden. "Auch die Akademisierung von Pflegeberufen kann zu einer Steigerung der Attraktivität des Berufes führen", erklärte Bauer im Rahmen der Diskussion. So könne man Lücken zwischen den Ärztinnen und Ärzten und den Pflegenden schließen. Auch Kordula Schulz-Asche, Mitglied im Gesundheitsausschuss und Mitglied der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag, forderte: "Gesundheitsberufe müssen auf Augenhöhe zusammenarbeiten".
Mit Prävention zu mehr Eigenverantwortung
Bei Politik trifft Gesundheit machte Ruth Waldmann, MdL und Stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Gesundheit und Pflege und Gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag, deutlich: "Mit Eigenverantwortung können wir die Lebensqualität stärken und die Arbeit der Pflegekräfte entlasten". Die BARMER sieht vor allem Präventionsangebote wie betriebliches Gesundheitsmanagement als gute Möglichkeit die Pflegenden zu Eigenverantwortung zu motivieren. "Wichtig sind passgenaue, leicht nutzbare Angebote, die die Mitarbeitenden in den beruflichen Alltag integrieren können", betont Wöhler. Professor Dr.Ullmann schloss sich Frau Waldmann an. "Eigenverantwortung und Prävention gehören zusammen", ergänzte er. "Wir müssen gemeinsam – Bundes- und Landespolitik etwas machen. Keiner darf sich wegducken", schloss Ullmann.
Finanzielle Überforderung Pflegebedürftiger vermeiden
"Entscheidend ist, dass Pflege qualitativ hochwertig und gleichzeitig bezahlbar bleibt", so Wöhler weiter. Ein wichtiger Baustein dabei sei, dass der Freistaat Bayern seiner gesetzlichen Pflicht nachkommt, die Investitionskosten zu übernehmen. Bereits dadurch könne eine Entlastung bei den Eigenanteilen der Pflegebedürftigen erreicht werden. Denn bisher stellen die Pflegeheime die Investitionskosten in der Regel den Bewohnerinnen und Bewohnern in Rechnung.
Bisherige Vorausberechnungen der Zahl der Pflegebedürftigen und des benötigten Pflegepersonals haben ausschließlich Demografie abhängige Effekte berücksichtigt. Für die Analysen im Barmer Pflegereport wurden, neben Lebenserwartung, Geburtenzahlen und Wanderungssalden, auch Einführungseffekte der Gesetzgebung hinzugezogen. Durch diese steigt die Zahl der Anspruchsberechtigten und des benötigten Pflegepersonals zusätzlich.