Deggendorf, 09.Juli 2024 – Die finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenversicherung, der Fachkräftemangel, der demographische Wandel und der technische Fortschritt machen einen Umbau des Gesundheitssystems unumgänglich. Die Gesetzesvorhaben der aktuellen Bundesregierung zeigen mit der Krankenhausstrukturreform, der Idee von Gesundheitsregionen und Primärversorgungszentren, der Reform der Notfallversorgung und dem Pflegekompetenzgesetz Ansätze und Voraussetzungen für eine sektorenübergreifende Versorgung. "Die Lösungen liegen auf dem Tisch. Die Umsetzung scheiterte bisher jedoch auch an den starken Beharrungskräften im Gesundheitswesen. Wenn die Patientinnen und Patienten auch zukünftig gut versorgt werden sollen, müssen wir jetzt ideologiefrei mit dem Mut zur Veränderung handeln", fordert Alfred Kindshofer, Landesgeschäftsführer der BARMER in Bayern. "Ein „Weiter so" ist nicht mehr möglich". Wie dieser Umbau gelingen kann diskutierten heute mehr als 130 Fachleute aus Politik, Wirtschaft und Gesundheitswesen beim BARMER-Forum in der Technischen Hochschule Deggendorf.
Es ist fünf vor 12
"Deutschland leistet sich eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Beim Outcome – gemessen unter anderem an der Lebenserwartung – sind wir allerdings nur im Mittelfeld", stellt Kindshofer fest. Obwohl Deutschland im internationalen Vergleich eine hohe Anzahl an Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegekräften hat, wird der Betreuungsschlüssel vom Personal als nicht zufriedenstellend empfunden. "Wir haben ganz offensichtlich ein Effizienzproblem", so Kindshofer weiter. Wichtig sei vor allem, die Probleme im Gesundheitswesen nicht mit mehr Geld lösen zu wollen, sondern mit echten Strukturveränderungen. Der Fachkräftemangel und der demographische Wandel, deren Auswirkungen heute schon spürbar sind, werde in absehbarer Zeit dazu führen, dass das Gesundheitssystem in seiner heutigen Struktur nicht mehr funktionieren würde. "Es ist also fünf vor zwölf, um zu handeln", unterstreicht Kindshofer.
Gesundheitswesen als Dienstleister für die Menschen
Die Gesundheitsversorgung sei nur bedarfsgerecht zu gewährleisten, wenn sie künftig über ambulante und stationäre Sektorengrenzen hinweg geplant und vergütet werde und am Bedarf der Bevölkerung in der Region ausgerichtet werde. "Wir müssen Strukturen so verändern, dass Patientinnen und Patienten vor Ort das bekommen, was sie tatsächlich benötigten", sagt Kindshofer. Einen Input, wie die Bevölkerung über die Versorgung von morgen denkt gab Irina Cichon vom Bosch Health Campus.
Echte Strukturveränderungen für mehr Qualität und Patientensicherheit
Die zunehmende Multimorbidität aufgrund der Alterung der Gesellschaft und die Diagnose- und Therapierbarkeit von immer mehr Erkrankungen stellt das Gesundheitssystem nicht nur vor finanzielle, sondern auch vor große personelle und organisatorische Herausforderungen. "Echte Strukturveränderungen hin zu mehr Qualität im Gesundheitssystem erfordern intelligente Lösungen, die sich an demographischen und medizinisch-technischen Entwicklungen und den regionalen Besonderheiten Bayerns als Flächenstaat orientieren", sagt Kindshofer. Dazu müssten die Hürden zwischen ambulanter und stationärer Versorgung abgebaut werden. Bei der geplanten Krankenhausstrukturreform haben die Länder eine gestufte Versorgung durch Level verhindert. Im Ergebnis blieben die sektorenübergreifenden Versorgungseinrichtungen. "Allerdings werden diese, nach derzeitigem Stand, eher eine Parallelstruktur denn eine echte sektorenübergreifende Versorgung schaffen", sagt Kindshofer
Gesundheitszentren entwickeln: Zusammenarbeit von Ärzten, Kliniken und Therapeuten fördern
Das Aufbrechen sektoraler Grenzen sei gerade auf dem Lande unumgänglich. "Ländliche Krankenhäuser könnten sich zu Gesundheitszentren für die Primär und Langzeitversorgung weiterentwickeln. Das erhält Arbeitsplätze und schafft neue Möglichkeiten in der medizinischen Versorgung aber auch in der Pflege", sagt Kindshofer. Regionale Versorgungsverbünde, das heißt Kooperationen von Kliniken, Ärzten verschiedener Fachrichtungen, Apotheken, Pflegediensten und Heilmittelerbringern, sind eine weitere Möglichkeit die Patientenorientierung und Qualität in der Versorgung zu gewährleisten. Diagnostik und Therapie werden interdisziplinär und unter Einbeziehung sowohl ärztlicher als auch nichtärztlicher Heilberufe und sonstiger Gesundheitsfachberufe erbracht. "Zusammenarbeit für eine sinnvolle und hochwertige Versorgung der Patienten soll zur Selbstverständlichkeit werden. Dazu gehört auch eine lückenlose Dokumentation der Befunde und des Behandlungsverlaufs, gestützt durch digitale Technologien. Dies kann in Versorgungsnetzen besser geleistet und die Kompetenzen der Mediziner und Therapeuten besser genutzt werden", so Kindshofer.
Mehr Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung
Welchen Beitrag die Digitalisierung für eine vernetzte Versorgung leisten kann, analysierte Professor Dr. Dr. Fabian-Simon Frielitz, Professor für Telemedizin, Digitalisierung und Ökonomie in der Medizin an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Die Digitalisierung hat bereits viele Lebensbereiche verändert und macht auch vor dem Gesundheitswesen nicht halt. Frielitz erläuterte, wie sie die dringend benötigten Strukturveränderungen unterstützen kann.