Pressemitteilungen aus Bayern

Immer mehr Kinder und Jugendliche in Bayern mit seelischen Problemen

Lesedauer unter 5 Minuten

München, 05. Mai 2021 – Reaktionen auf schwere Belastungen, Angststörungen und Depressionen, sind eigentlich keine Erkrankungen, die man auf den ersten Blick mit jungen Menschen in Verbindung bringt. Und doch leiden immer mehr Kinder und Jugendliche in Bayern so sehr darunter, dass sie psychotherapeutisch behandelt werden müssen. Innerhalb von elf Jahren ist die Zahl der jungen Patientinnen und Patienten im Freistaat um rund 90 Prozent gestiegen. Das geht aus dem aktuellen Barmer Arztreport hervor. Demnach benötigten im Jahr 2019 rund 123.800 bayerische Kinder und Jugendliche psychotherapeutische Hilfe. "Sozialer Stress und wachsende Leistungsanforderungen können Gründe sein, weshalb sich junge Menschen häufiger unter Druck gesetzt fühlen, was ihnen buchstäblich auf die Seele schlägt", sagt Professorin Dr. Claudia Wöhler, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Bayern. Die Corona-Pandemie dürfte dabei die Situation noch ein Stück weit verschärfen. Allein im ersten Halbjahr 2020 stieg die Zahl der bayerischen Heranwachsenden bis einschließlich 24 Jahren mit Psychotherapie gegenüber 2019 um 6,5 Prozent von 46.673 auf 49.706. Im Vergleichszeitraum der ersten Halbjahre 2018 und 2019 betrug der Anstieg nur 1,5 Prozent. 

Frühzeitige professionelle Hilfe

Psychische Probleme können für Kinder und Jugendliche ernste Folgen haben. "Aus kranken Kindern werden nicht selten kranke Erwachsene. Es ist wichtig, frühzeitig die Alarmsignale ernst zu nehmen. Aufklärung, Wissensvermittlung sowie bekannte und gut erreichbare Hilfsangebote für die Heranwachsenden selbst, ihre Eltern, Freunde, aber auch pädagogische Fachkräfte spielen eine entscheidende Rolle", so Wöhler. Psychische Probleme hätten heute zwar einen höheren Stellenwert als früher, dennoch dauere es oft noch zu lange bis Betroffene professionelle Hilfe erhielten.

Schnelle Erfolge sind selten

Viele junge Menschen leiden den Ergebnissen des Reports zufolge über Jahre an psychischen Störungen. Dies belegt eine Langzeitbetrachtung von Kindern und Jugendlichen, die im Jahr 2014 erstmals eine Psychotherapie erhalten haben. So wurde bei mehr als jedem oder jeder dritten Betroffenen bereits fünf Jahre vor Start einer klassischen Psychotherapie zumindest eine psychische Störung dokumentiert. Bei 40,7 Prozent beschränkten sich die Psychotherapiesitzungen auf maximal ein Jahr. 36,4 Prozent erhielten auch mehr als zwei Jahre nach Start der Behandlung noch Psychotherapien. „Haben sich psychische Probleme erst einmal chronifiziert, wird die Behandlung oft schwieriger und langwieriger“, sagt Wöhler. So seien laut Report zum Beispiel bei 62,5 Prozent aller Betroffenen auch noch fünf Jahre nach Start der Psychotherapie psychische Störungen diagnostiziert worden.

Gute Noten für die Psychotherapeutische Sprechstunde

Die Reform der Psychotherapie-Richtlinie im Jahr 2017 hat den Zugang zur psychotherapeutischen Betreuung erleichtert. Therapeuten bieten seitdem neben der klassischen Psychotherapie, bestehend aus Kurz- und/oder Langzeittherapie, auch Psychotherapeutische Sprechstunden und Akutsprechstunden an. Diese dienen einer frühzeitigen Abklärung, ob und welche psychotherapeutische Behandlung notwendig ist. Auch überbrücken sie professionell Wartezeiten bis zum Beginn einer erforderlichen Psychotherapie. Parallel dazu ist die Anzahl der Psychotherapeuten gestiegen. Allein im Jahr 2018 von 3.060 auf 3.541 im Jahr 2020. Auch die Zahl der Kinder- und Jugendlichen-psychotherapeutinnen und -therapeuten stieg im gleichen Zeitraum in Bayern von 990 auf 1.228.

Anpassungsstörungen, Depressionen und Angst sind häufig Ursache

Die Ursachen für psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen sind, wie auch bei Erwachsenen, äußerst vielfältig. Den Ergebnissen des Arztreports zufolge zählten im Jahr 2019 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen zu den häufigsten Diagnosen. Darunter fallen Trauererlebnisse genauso wie Mobbing. Zweithäufigster Anlass für den Beginn einer Therapie waren Depressionen, gefolgt von emotionalen Störungen im Kindesalter.

Eltern und alle weiteren Bezugspersonen sollten genau hinschauen

Das Kindes- und Jugendalter ist eine Lebensspanne, die mit vielfältigen psychischen und körperlichen Veränderungen einhergeht. Die Entwicklung vom Säuglings- und Kleinkindalter über die Vor- und Grundschulzeit bis hin zur Pubertät und dem Jugendalter bringt sehr verschiedene Anforderungen und Aufgaben mit sich. Diese sind verbunden mit typischen Problemen oder Verhaltensauffälligkeiten, die nicht immer Ausdruck einer psychischen Erkrankung sein müssen. Studien über die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland zeigen, dass etwa 17 Prozent von psychischen Auffälligkeiten betroffen sind. Darunter befinden sich auch behandlungsbedürftige Störungen wie Ängste, Depressionen, aggressives Verhalten und auch das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS). Unbehandelte emotionale oder Verhaltensprobleme können sich im Erwachsenenalter fortsetzen und verstärken. Das beeinträchtigt die Lebensqualität der Betroffenen stark und kann sich ungünstig auf die weitere soziale und berufliche Entwicklung auswirken. "Für Kinder und Jugendliche ist es daher außerordentlich wichtig, dass psychische Störungen möglichst frühzeitig erkannt und behandelt werden", unterstreicht Peter Lehndorfer, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und Vizepräsident der Psychotherapeutenkammer Bayern. Verstärkter Rückzug, Schlafstörungen, plötzlich auftretendes trotziges oder aggressives Verhalten oder ein veränderter Antrieb können Warnsignale sein. Auch neu auftretende Ängste und Sorgen, ein veränderter Schlafrhythmus, auch starke Wandlungen im Essverhalten können Hinweise auf das Vorliegen einer beginnenden psychischen Erkrankung sein. Allerdings muss auch nicht hinter jedem Symptom eine psychische Erkrankung stecken. "Wenn Eltern Veränderungen bei ihren Kindern wahrnehmen, die ihnen Sorgen bereiten, sollten sie den fachlichen Rat einer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin bzw. eines -psychotherapeuten, einer Kinder- und Jugendpsychiaterin bzw. -psychiaters einholen", empfiehlt Lehndorfer. Die Angebote in der ambulanten medizinischen Versorgung werden ergänzt durch soziale Beratungsstellen, durch Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter sowie durch Schulpsychologinnen und -psychologen. Nicht jede individuelle Situation erfordert eine Psychotherapie. Mitunter können Gespräche oder bereits wenige Sitzungen bei Therapeutinnen und -therapeuten, in Form von Psychotherapeutischen oder Akutsprechstunden dabei helfen, Lösungswege aufzuzeigen oder die weiteren Schritte zu strukturieren.

Ergänzende Hilfsangebote nutzen

Die Barmer-Landesgeschäftsführerin betont, dass es auch abseits von Therapeutinnen und Therapeuten Hilfsangebote für Heranwachsende mit psychischen Problemen gibt. So unterstütze die Barmer das kostenlose Online-Angebot krisenchat.de. Bei psychischen Problemen könnten sich junge Menschen bis 25 Jahren dort unkompliziert und anonym an geschulte Ehrenamtliche wenden. Der Anbieter sei ein gemeinnütziges Unternehmen. Zudem unterstütze die Barmer fideo.de, eine neue Webseite des Vereins "Diskussionsforum Depression" für Jugendliche ab 14 Jahren. Die Seite biete unter anderem ein von Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten moderiertes Selbsthilfeforum, in dem sich Jugendliche austauschen könnten.

Das komplette Material zum Arztreport 2021 - Ergebnisse für Bayern können Sie unter www.bifg.de/publikationen herunterladen.

Kontakt für die Presse:

Stefani Meyer-Maricevic
Pressesprecherin Barmer Bayern
Telefon: 0800 33 30 04 25 1131
E-Mail: presse.by@barmer.de
Twitter: twitter.com/BARMER_BY