35 Prozent und damit mehr als jede dritte Erwerbsperson aus Baden-Württemberg war im Jahr 2021 von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das geht aus dem aktuellen Barmer-Gesundheitsreport hervor.
Hochgerechnet auf die Zahl der Erwerbspersonen im Land sind das mehr als 2 Millionen betroffene Männer und Frauen im Alter von 15 bis 64 Jahre. Bei rund 337.000 Erwerbspersonen (5,8 Prozent) zog die seelische Erkrankung auch eine Arbeitsunfähigkeit nach sich. "Die psychische Gesundheit ist ein wichtiger Faktor für ein zufriedenes Leben. Sowohl im Privaten als auch in der Berufswelt. Deshalb spielt sie nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft und die Unternehmen eine große Rolle", sagt Winfried Plötze, Landesgeschäftsführer der Barmer in Baden-Württemberg. Maßnahmen aus dem betrieblichen Gesundheitsmanagement und ein vertrauensvolles Miteinander auf allen Hierarchieebenen könnten das psychische Wohlbefinden der Beschäftigten stärken und den Betroffenen helfen. Und daran sollten alle Betriebe ein Interesse haben.
Häufige Arbeitsplatz- und Wohnortwechsel sind Risikofaktoren
Anhand ihrer Versichertendaten hat die Barmer für den Gesundheitsreport analysiert, welche Faktoren das Risiko für eine psychische Erkrankung erhöhen können. Demnach steigt bei häufigen Arbeitsplatz- und Wohnortwechsel die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer psychischen Störung. Die Unternehmen könnten dieses Risiko reduzieren, indem sie ortsunabhängiges Arbeiten ermöglichen und berufsbedingte Umzüge vermeiden. Und die Beschäftigten sollten vor einem Job- oder Wohnortswechsel die Vor- und Nachteile abwägen.
Präsentismus kostet deutlich mehr als Absentismus
Zwar verursachen die psychischen Störungen eher selten eine Krankschreibung, aber wenn, dann fallen Betroffene lange aus. In Baden-Württemberg laut Barmer-Gesundheitsreport im Schnitt für 51 Tage im Jahr 2021. "Was aber ignoriert wird, ist die Tatsache, dass die Kosten, die dadurch entstehen, dass Beschäftigte stark belastet oder sogar krank zur Arbeit gehen, in Deutschland fast dreimal höher sind als diejenigen, die durch Fehltage verursacht werden", sagt Frank Mercier. Der 56-jährige Wirtschaftswissenschaftler ist Geschäftsführer einer Management- und IT-Beratungsfirma und als Vorstandsmitglied der Deutschen DepressionsLiga seit mehr als drei Jahren für das Programm 'Arbeitgeberseminare' zuständig. Eine Erhebung aus dem Jahr 2016 habe den volkswirtschaftlichen Schaden, der durch Präsentismus entstehe, auf rund 250 Milliarden Euro beziffert. Dagegen beliefen sich die Kosten aufgrund von Fehltagen auf etwa 90 Milliarden Euro. "Niemand würde mit einem akuten Herzleiden weiter zur Arbeit gehen. Aber eine psychische Erkrankung diagnostizieren und behandeln zu lassen, der Gedanke kommt Vielen erst einmal nicht. Im Schnitt dauert es 20 Monate, bis sich an einer Depression erkrankte Menschen professionelle Hilfe suchen." Mercier weiß, wovon er spricht. Vor zehn Jahren hatte er selbst eine depressive Episode. Nach 18 Monaten habe es seine Frau endlich geschafft, ihn zu einem Arztbesuch zu bewegen. "Aus eigenem Antrieb wäre ich dazu nicht in der Lage gewesen. Ich habe irgendwie weitergemacht, und damit habe ich mir und meiner eigenen Firma geschadet. Ich wusste, dass ich depressiv bin. Aber mangels besseren Wissens hatte ich Angst vor einer Behandlung. Und auch vor beruflichen Konsequenzen."
Die meisten Erwerbspersonen leiden unter einer Depression
Tatsächlich ist die Depression die psychische Erkrankung, die laut Barmer-Gesundheitsreport am häufigsten festgestellt wurde. Bei fast elf Prozent der baden-württembergischen Erwerbspersonen sei sie im Jahr 2021 erstmals diagnostiziert worden. Mehr als fünf Prozent litten unter einem Rezidiv, also einer wiederkehrenden Depression. Vor allem Ältere seien betroffen. "Eine Depression korreliert mit Umständen, die mit einem höheren Alter einhergehen. Etwa Krankheiten oder Todesfällen. Außerdem wird die berufliche Belastung im Alter stärker wahrgenommen, das kann auch eine Rolle spielen", sagt Barmer-Landeschef Winfried Plötze. Zudem würden die psychischen Störungen das Renteneintrittsalter senken. Bei der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg seien im letzten Jahr rund 36 Prozent der Anträge auf eine Erwerbsminderungsrente mit einer psychischen Erkrankung begründet worden. Bundesweit liege die Quote bei 42,3 Prozent. Dadurch würden die Unternehmen zusätzlich Arbeitskräfte verlieren, die ihnen schon jetzt fehlten.
Aufklärungs- und Informationsbedarf in den Unternehmen steigt
Laut Frank Mercier steigt die Nachfrage nach den Arbeitgeberseminaren der Deutschen DepressionsLiga. Immer mehr Betriebe wollen mehr über Depressionen, deren Entstehung und den richtigen Umgang mit erkrankten Kolleginnen und Kollegen wissen. "Führungskräfte sollten vermitteln, dass psychische Störungen behandelbare Krankheiten sind. Das Management muss auch ein wertschätzendes Betriebsklima schaffen, in dem sich die Betroffenen trauen, sich zu öffnen. Und sie sollten wissen, wo psychisch belastete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die richtige Hilfe bekommen können." Eine Depression zu erkennen, sei nicht leicht, da sie sich vielfältig äußern könne. Konzentrationsprobleme, Antriebslosigkeit und eine gedrückte Stimmung könnten aber Anzeichen sein. Selbst gestellte Diagnosen und Gesundheitstipps sollten Vorgesetzten vermeiden. "Die Experten für psychischen Erkrankungen sitzen nicht in unseren Chefetagen. Führungskräfte sind weder Therapeuten noch Ärzte."
Hintergrund:
Für den Barmer-Gesundheitsreport 2023 wurden die Arbeitsunfähigkeitsdaten von bei der Barmer versicherten Erwerbspersonen im Alter von 15 bis 64 Jahren ausgewertet. Zu den Erwerbspersonen zählen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, freiwillig versicherte Selbstständige mit Anspruch auf Krankengeld und Bezieher von Arbeitslosengeld 1, die ebenfalls einen Anspruch auf Krankengeld haben. In diese Analyse sind die Arbeitsunfähigkeitsdaten von bundesweit 3,7 Mio. Barmer-Versicherten eingeflossen. Darunter sind rund 336.444 Erwerbspersonen aus Baden-Württemberg im Jahr 2021. Die Daten wurden nach Alter und Geschlecht standardisiert. Zusätzlich wurden ambulante und stationäre Diagnosen der Barmer-Versicherten in den Jahren 2014 bis 2021 berücksichtigt.
Die Deutsche DepressionsLiga e.V. ist die bislang einzige bundesweit aktive Patientenvertretung für an Depressionen erkrankte Menschen und deren Angehörige. Der Vorstand und die Mitglieder arbeiten ehrenamtlich an ihren Zielen Aufklärung und Entstigmatisierung, an Angeboten der Hilfe und Selbsthilfe für Betroffene und an deren Interessenvertretung gegenüber Politik, Wirtschaft, Gesundheitswesen und Öffentlichkeit. Die DepressionsLiga e.V. hat aktuell rund 1.900 Mitglieder.