Stuttgart, 25. Februar 2019 – In Baden-Württemberg haben viele pflegende Angehörige ihre Belastungsgrenze erreicht, das geht aus dem Barmer-Pflegereport hervor. Nach einer Hochrechnung der Krankenkasse wollen von den rund 294.000 Baden-Württembergern, die zu Hause einen Angehörigen pflegen, 19.400 nur mit mehr Unterstützung weitermachen. 2.400 wollen dies auf keinen Fall mehr tun.
"Wenn wir vom Pflegenotstand sprechen, dann dürfen wir nicht nur an die Fachkräfte denken. Die Familie ist der größte Pflegedienst, in Baden-Württemberg werden die meisten Pflegebedürftigen daheim versorgt. Wenn im Südwesten fast 22.000 pflegende Angehörige das Handtuch werfen, weil sie am Limit sind, dann kollabiert das System. Deshalb ist es wichtig, dass pflegende Angehörige auch sich selbst pflegen und frühzeitig Hilfe bekommen", sagt Winfried Plötze, Landesgeschäftsführer der Barmer Baden-Württemberg bei der Vorstellung des Pflegereports in Stuttgart. Deshalb bietet die Barmer unter anderem mehrtägige Pflegeseminare, individuelle häusliche Schulungen und Online-Kurse an. Plötze: "Wir vermitteln sowohl Fertigkeiten, welche die Pflege erleichtern als auch Wissen darüber, was pflegende Angehörige für sich selbst tun können, um körperlichen und seelischen Belastungen vorzubeugen." Laut einer repräsentativen Befragung der Barmer unter 1.862 pflegenden Angehörigen wünschen sich fast 60 Prozent weniger Bürokratie bei der Beantragung von Leistungen. Deshalb werden Versicherte der Barmer bald die Möglichkeit haben, den Hauptantrag auf Pflegeleistungen online zu stellen.
Rückenbeschwerden in Calw, Depressionen im Main-Tauber-Kreis
Pflegende Angehörige sind laut Hochrechnung der Barmer öfters krank. So leiden in Baden-Württemberg mehr als 82.000 unter einer Depression (28 Prozent), mehr als 38.000 (13 Prozent) haben eine Belastungsstörung, fast 156.000 schmerzt der Rücken (53 Prozent). Bei Personen, die niemanden pflegen, trifft dies nur auf 23 Prozent, beziehungsweise auf neun und 48 Prozent zu. Auch der Blick in die Stadt- und Landkreise zeigt, dass pflegende Angehörige gesundheitlich stärker belastet sind. So leiden im Landkreis Calw 69 Prozent unter Rückenbeschwerden, von den nicht Pflegenden sind nur 50 Prozent betroffen. Depressionen machen 37 Prozent der pflegenden Angehörigen im Main-Tauber-Kreis zu schaffen (nicht Pflegende 28 Prozent), in Freiburg und im Hohenlohekreis haben 24 Prozent der Hauptpflegepersonen eine Belastungsstörung, jedoch nur 11 Prozent derjenigen, die niemanden pflegen.
Vom pflegenden Angehörigen zum Co-Patienten
In Baden-Württemberg gibt es rund 200.000 demenziell Erkrankte, die überwiegend von Angehörigen gepflegt werden. Diese übernehmen sukzessive sämtliche Aufgaben des täglichen Lebens, von Behördengängen bis zur Hausarbeit. Hinzu kommt, dass sich Personen mit Demenz im Laufe ihrer Erkrankung verändern und pflegende Angehörige oft mit ungewöhnlichem Verhalten konfrontiert werden. "Am Anfang sagen die meisten: Das schaffe ich! Aber irgendwann wird die Belastung so groß, dass sehr viele auf einen Burn-out zusteuern. So werden aus pflegenden Angehörigen im Laufe der Zeit Co-Patienten", weiß Sylvia Kern, Geschäftsführerin der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg. Seit Jahren setzt sich die Selbsthilfeorganisation für Demenzkranke und deren Angehörige ein. "Wir unterstützen, wo wir können. Was aber immer noch fehlt, sind Wertschätzung sowie ausreichend Fachkräfte und Ehrenamtliche in der ambulanten Pflege, um betreuende Angehörige zu entlasten", so Kern.
Armut und kaum Zeit für sich
Laut Barmer-Pflegereport kümmert sich mehr als die Hälfte der Angehörigen mehr als zwölf Stunden täglich um die pflegebedürftige Person und hat zudem keine Möglichkeit, für längere Zeit eine Vertretung zu finden. Bundesweit haben 34 Prozent der pflegenden Angehörigen eine Schlafstörung, jedem Dritten fehlt Zeit für Sport und Entspannung. 14 Prozent gehen aus Zeitmangel nicht zum Arzt, 13 Prozent bewerten ihre Lebensqualität als schlecht bis sehr schlecht. Zudem gaben 44 Prozent der von der Barmer befragten pflegenden Angehörigen ein Nettohaushaltseinkommen von unter 1.000 Euro an. "Da die Armutsschwelle für einen Singlehaushalt bei 942 Euro liegt, ist die finanzielle Lage vieler Pflegenden prekär", sagt Winfried Plötze. Die Bundesregierung plant ein Entlastungsbudget, das die Leistungen der Verhinderungs-, Kurzzeit-, Tages- und Nachtpflege zusammenfasst. Damit soll die häusliche Pflege finanziell unterstützt und Bürokratie abgebaut werden. Die Barmer plädiert dafür, hier auch den Entlastungsbetrag von 125 Euro monatlich einzubeziehen. Damit könnten zum Beispiel die Eigenanteile für einen Aufenthalt in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung reduziert werden.
Viele Unterstützungsangebote werden nicht genutzt
Doch trotz der hohen Belastung werden viele Hilfsangebote von den pflegenden Angehörigen nicht genutzt. Die Gründe dafür sind vielfältig. So sind die Hilfsangebote zum Teil nicht bekannt oder die pflegebedürftige Person will nicht von Fremden betreut werden. So nehmen laut Hochrechnung der Barmer bundesweit 437.000 pflegende Angehörige die Kurzzeitpflege nicht in Anspruch, weil das Angebot unpassend und der Aufwand zu hoch seien.
Barmer-Pflegeportal: www.barmer.de/pflege
Alzheimergesellschaft Baden-Württemberg e.V.: www.alzheimer-bw.de