Barmer-Arzneimittelreport 2024

In Baden-Württemberg sind zu wenig Kinder gegen HPV geimpft

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Stuttgart, 5. Dezember 2024 – In Baden-Württemberg sind 44,7 Prozent der Mädchen im Alter bis 17 Jahre gar nicht oder nur unvollständig gegen das Humane Papillomavirus (HPV) geimpft. Das ist bundesweit die drittschlechteste Quote nach Bayern und Bremen. Von den baden-württembergischen Jungen im Alter bis 13 Jahre haben 81,2 Prozent gar keinen oder keinen vollständigen Impfschutz. Das geht aus dem Barmer-Arzneimittelreport hervor.

"Eine HPV-Infektion kann schwerwiegende Folgen haben, zum Beispiel Gebärmutterhalskrebs. Etwa jede vierte Frau im Alter bis 30 Jahre ist mit HPV infiziert. Zwar verursacht nicht jede Infektion Krebs, aber Humane Papillomaviren sind tickende Zeitbomben. Denn zwischen der Infektion mit dem Virus und der Entstehung des Tumors liegen Jahre. Das sind Zeitbomben, die durch eine Impfung entschärft werden könnten", sagt Winfried Plötze, Landesgeschäftsführer der Barmer in Baden-Württemberg, bei der Vorstellung des Arzneimittelreports in Stuttgart. Zudem seien die Impfquoten in Baden-Württemberg nach der Pandemie eingebrochen. Von 2021 auf 2022 sank sie bei den Mädchen und jungen Frauen um 22,7 Prozent, bei den Jungen um 27,3 Prozent. "Meine Befürchtung ist, dass die Impfquote weiter sinkt. Ich appelliere an alle Eltern, ihre Kinder impfen zu lassen. Und auch junge Menschen, die noch nicht geschützt sind, sollten die HPV-Impfung nachholen. Denn sie kann Leben retten. Und sie ist sicher." Ohne eine Trendwende seien auch die Ziele der Weltgesundheitsorganisation nicht zu erreichen: Eine Impfquote von 90 Prozent bei den Mädchen und das Eliminieren des Zervixkarzinoms (Gebärmutterhalskrebs) bis zum Jahr 2030.

Weniger Gebärmutterhalskrebs bei geimpften jungen Frauen

Eine Infektion mit HPV gehört zu den häufigsten sexuell übertragbaren Krankheiten. Nahezu alle Fälle von Gebärmutterhalskrebs und etwa die Hälfte aller virusbedingten bösartigen Tumore werden durch das Humane Papillomavirus verursacht. Um sich vor einer HPV-Infektion und somit auch vor bestimmten Krebsarten zu schützen, empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) bereits seit dem Jahr 2007 eine HPV-Impfung für Mädchen und seit 2018 auch für Jungen. Der Barmer-Arzneimittelreport belegt, dass die HPV-Impfung wirkt. Bundesweit erkrankten im Jahr 2011 2,3 von 100.000 Frauen im Alter von 20 bis 29 Jahren an Gebärmutterhalskrebs. Im Jahr 2022 sank die Rate auf 0,7 Erkrankte je 100.000. Dieser Effekt wurde bei den 30- bis 39-jährigen Frauen nicht beobachtet, weil sie im Kindesalter noch nicht geimpft werden konnten. Von ihnen erkrankte im Jahr 2022 12 von 100.000 Frauen an Gebärmutterhalskrebs und damit sogar mehr als im Jahr 2011 (9,5 je 100.000).

Auch Männer erkranken an HPV-bedingtem Krebs

Seit sechs Jahren empfiehlt die STIKO die HPV-Impfung auch für Jungen. Weil sie das Virus als Träger verbreiten, und weil Humane Papillomaviren bei ihnen Krebs im Mund, im Rachen und im Genitalbereich verursachen können. Für Dirk Rhode kommt dieser Schutz zu spät. Vor neun Jahren wurde bei ihm ein bösartiger Tumor am Zungengrund entdeckt. Nachweislich ausgelöst durch den Virustyp HPV 16. Es folgten vier Operationen, bei denen ihm ein Teil der Zunge und mehrere befallene Lymphknoten entfernt wurden. Gefolgt von einer monatelangen Chemo- und Strahlentherapie. Heute hilft der 60-jährige Polizist aus Köln Betroffenen, die ebenfalls an Krebs im Kopf, Mund oder Rachen erkrankt sind. Und er macht sich für die HPV-Impfung stark. Für sein ehrenamtliches Engagement wurde Dirk Rhode im November mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. "Ich bin durch die Hölle gegangen. Wenn ich den Krebs durch eine Impfung hätte verhindern können, ich hätte nicht eine Sekunde gezögert. Ich weiß, wie sich der Tod anfühlt. Kein Mensch soll das durchmachen müssen, was ich erlebt habe."

Unwissenheit und Unverbindlichkeit verhindern die Impfung

Dass zu wenig Menschen gegen HPV geimpft sind, hat mehrere Gründe. Viele wissen nichts über die Risiken einer HPV-Infektion und die Möglichkeit, sich mittels Impfung davor zu schützen. Hinzu kommt eine unbegründete Angst vor Nebenwirkungen und das Fehlen eines präzisen Impfdatums. "Statt die Impfung im Zeitkorridor von 9 bis 14 Jahren zu empfehlen, wäre es besser, einen konkreten Zeitpunkt wie eine bestimmte U-Untersuchung zu benennen. Dann schiebt man die Impfung nicht vor sich her", sagt Winfried Plötze. Er verweist auf das kostenlose Kinder- und Jugendprogramm (KJP) der Barmer. In diesem werden die Eltern im Rahmen der Untersuchung J1 auf die HPV-Impfung aufmerksam gemacht. Bei den Jungen ist die Rate der vollständig Geimpften fast doppelt so hoch, wenn sie am KJP teilnehmen. Bei den Mädchen ist die HPV-Impfquote um 20 Prozent höher als bei denen außerhalb des KJP. Zusätzlich hat die Barmer Ende November ein Pilotprojekt gestartet. Bundesweit werden Eltern angeschrieben, deren Kinder bislang nur einmal gegen HPV geimpft worden sind und die seit mindestens zwölf Monaten keine weitere Impfung bekommen haben. Dadurch soll die Zahl der vollständig geimpften Kinder und Jugendlichen innerhalb eines Jahres um fünf Prozent erhöht werden.

Freiwillige Schulimpfung kommt gut an 

Um die Impfquote in Deutschland zu erhöhen, setzt sich die Mannheimer preventa Stiftung für freiwillige HPV-Impfungen an Schulen ein. "Die Schulen sind der ideale Ort, um Kinder, Jugendliche und deren Eltern über die HPV-Impfung aufzuklären", sagt der Mediziner und Geschäftsführer der preventa Stiftung, Dr. Claus Köster. In der Metropolregion Rhein-Neckar hat die Stiftung die freiwillige HPV-Impfung bereits an 40 Schulen erfolgreich umgesetzt, gemeinsam mit den Gesundheitsämtern und niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten. "Entgegen der oft zitierten Impfmüdigkeit ist die Impfbereitschaft bei den informierten Eltern groß. Etwa 80 Prozent der Mütter und Väter, die von uns in der Schule über HPV aufgeklärt wurden, haben ihre Kinder anschließend impfen lassen." Bis zum Beginn der Corona-Pandemie seien mehr als 2000 Familien über die freiwillige Schulimpfung erreicht und informiert worden. Dadurch habe sich beispielsweise die Impfquote im Landkreis Bergstraße verdoppelt. Auch eine Umfrage des Deutschen Krebsforschungszentrums hätte gezeigt, dass die Mehrheit der Eltern und Jugendlichen für ein niederschwelliges Impfangebot in der Schule ist.

Schulimpfung gegen Impflücken durch Ärztemangel

Auch mit Blick auf den Mangel an Kinderärztinnen und -ärzten könnte die Schulimpfung interessant sein. Denn laut Barmer-Arzneimittelreport impfen vor allem sie gegen HPV. Im Jahr 2022 haben die Kinderärztinnen und -ärzte bundesweit gut 81 Prozent der Erstimpfungen durchgeführt. In Baden-Württemberg klagen Eltern aber immer wieder darüber, dass sie keine Kinderarztpraxis finden, die sie aufnimmt. Die Internetseite der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg weist 16 Planungsbereiche aus, welche für die Niederlassung von Kinder- und Jugendärzten geöffnet sind. Die Schulimpfung könnte generell dabei helfen, Impflücken aufgrund eines Ärztemangels zu vermeiden. Nicht nur in Bezug auf HPV. Diese Ansicht teilt auch Claus Köster. Im Rahmen der freiwilligen Schulimpfung hätten die beteiligten Ärztinnen und Ärzte häufig Kontakt zu Kindern gehabt, die seit Jahren keinen Arzt gesehen und große Impflücken gehabt hätten. Vor allem die Buben hätten so gut wie gar keinen Impfschutz gehabt.

Mehr Todesopfer durch HPV als Verkehrstote

In anderen Ländern gibt es Schulimpfprogramme. Etwa in Australien, Kanada und Großbritannien. Alle erzielen deutlich höhere HPV-Impfquoten als Deutschland. "Dass es die freiwillige Schulimpfung bei uns nicht gibt, liegt an strukturellen Problemen in unserem Gesundheitssystem. Es fühlt sich auch niemand dafür verantwortlich, das Thema anzugehen. Dabei sterben in Deutschland mehr Menschen an HPV-bedingtem Krebs als im Straßenverkehr. Den Straßenverkehr versuchen wir sicherer zu machen. Das Leid, das Humane Papillomaviren verursachen, nehmen wir einfach hin. Das ist für mich unbegreiflich", sagt Köster. Jedes Jahr würden in Deutschland 8.000 bis 10.000 Menschen an HPV-induziertem Krebs erkranken, von denen etwa 3.500 sterben.

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