Stuttgart, 28. April 2021 - In Baden-Württemberg benötigen immer mehr Kinder und junge Erwachsene im Alter bis 24 Jahren psychologische Hilfe. Das geht aus dem aktuellen Barmer-Arztreport hervor. Demnach wurden im Jahr 2019 fast 110.000 junge Baden-Württemberger durch Psychotherapeuten unterstützt. Das sind 88 Prozent mehr als im Jahr 2009. Mädchen werden häufiger behandelt als Jungen, oft wegen einer Essstörung oder einer Depression. "Jeder junge Mensch, der psychotherapeutische Hilfe benötigt, soll diese auch bekommen. Aber die Gesellschaft muss auch mehr dafür tun, damit Kinder gesund aufwachsen und erst gar keine psychische Störung entwickeln. Der Grundstein für eine positive Lebenseinstellung und den Umgang mit Stress, Fehlern und Niederlagen wird schon früh gelegt. In der Familie, in der Kita und in der Schule", sagt Barmer Landesgeschäftsführer Winfried Plötze bei der Vorstellung des Arztreports in Stuttgart.
Kein Mangel an Therapieplätzen ersichtlich
Die Coronapandemie schlage sich nicht besonders auffällig in den Barmer-Daten nieder. Zumindest nicht, wenn man das 1. Halbjahr 2020 betrachte. Im Vergleich zum 1. Halbjahr 2019 sei die Zahl der jungen Baden-Württemberger mit einer Gesprächstherapie um 1,4 Prozent auf rund 38.000 gestiegen. Die Aussage, dass die Pandemie ein Defizit an Behandlungsplätzen verschärfe, könne anhand dieser Daten nicht bestätigt werden. Zumal es in Baden-Württemberg auch immer mehr Therapeuten gebe. Die Zahl der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, die mit der Barmer abrechneten, sei in sechs Jahren um 25 Prozent gestiegen. "Wir haben in Baden-Württemberg keine Unterversorgung festgestellt, allerdings verteilen sich die Psychotherapeuten nicht flächendeckend im Land. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Einwohner- und Therapeutendichte. In Freiburg und Heidelberg ist das Angebot hoch. In ländlichen Regionen lassen sich dagegen weniger Psychotherapeuten nieder", so Plötze.
Jeder 5. Jugendliche hat Erfahrung mit Cybermobbing gemacht
Vergleichsweise häufig würden die jungen Menschen wegen einer Reaktion auf schwere Belastungen oder einer Anpassungsstörung behandelt. Ob Mobbing dafür der Auslöser ist, geht aus der Barmer-Studie nicht hervor. "Mobbing ist keine Diagnose. Deshalb taucht es auch nicht in unseren Abrechnungsdaten auf. Wir wissen aber aus unserer Beteiligung an der Sinus-Jugendstudie, dass etwa 20 Prozent der 14- bis 17-Jährigen in Deutschland schon Erfahrungen mit Cybermobbing gemacht haben", sagt Marschall.
Reden und professionelle Hilfe in Anspruch nehmen
Ist es normale kindliche Angst, oder liegt eine Störung vor? Für die Eltern sei es nicht immer leicht, die Gemütslage ihres Kindes richtig zu deuten. Sie sollten mit ihrem Kind reden und auch Freunde, Erzieher oder Lehrer fragen, ob ihnen eine Veränderung aufgefallen sei. Und die Eltern sollten sich nicht davor scheuen, im Ernstfall professionelle Hilfe anzunehmen. Marschall: "Unsere Daten zeigen auch, dass nicht immer eine langfristige Gesprächstherapie notwendig ist. Auch kleinere Maßnahmen können etwas bewirken. Je früher diese eingeleitet werden, desto besser."
Weitere Ergebnisse aus dem Barmer-Arztreport 2021
- Von den rund 110.000 jungen Baden-Württembergern, die im Jahr 2019 psychotherapeutisch behandelt wurden, waren mehr als 60.000 Mädchen und junge Frauen.
- Von diesen 60.000 Mädchen und jungen Frauen erhielten rund 29.000 eine Richtlinientherapie ("Gesprächstherapie").
- Die Zahl der psychotherapeutisch behandelten Jungen hat sich in Baden-Württemberg nahezu verdoppelt. Sie steigt von rund 26.000 im Jahr 2009 auf fast 50.000 im Jahr 2019.
- Davon erhielten rund 19.500 im Jahr 2019 eine Richtlinientherapie.
- Im Schnitt erhalten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Baden-Württemberg 17 Sitzungen im Rahmen einer Gesprächstherapie.
- Jungen werden häufig im Alter von 10 und 11 Jahren psychotherapeutisch behandelt, junge Frauen dagegen in ihren 20er Jahren.
- Die Zahl der Psychotherapeuten in Baden-Württemberg steigt. Während im Jahr 2013 1.769 Psychologische Psychotherapeuten mit der Barmer abrechneten, waren es im Jahr 2019 2.429.
- Die Zahl der abrechnenden Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten ist im selben Zeitraum von 615 auf 768 gestiegen.
- Auf 100.000 Kinder und junge Erwachsene im Alter bis 24 Jahre kommen in Baden-Württemberg durchschnittlich 30,4 Therapeuten. Zum Vergleich: In Berlin sind es 39,5, in Schleswig-Holstein 21,4 und im Bundesdurchschnitt 29,4.
Durch die Barmer geförderte Hilfsangebote
Seit dem Jahr 2010 fördert die Barmer das Online Portal FIDEO ("Fighting Depression Online") des Diskussionsforums Depression e.V. für Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 25 Jahren mit Depressionen. Seit diesem Jahr unterstützt die Barmer das Online-Angebot krisenchat.de für Menschen bis 25 Jahren. Bei psychischen Problemen, etwa durch Cybermobbing, können sie sich unkompliziert und anonym an geschulte Psychologinnen und Psychologen wenden. Im Rahmen des Kinder- und Jugend-Programm der Barmer achten die teilnehmenden Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte gezielt auf psychische Auffälligkeiten der jungen Menschen. Mehr als 53.000 Kinder und Jugendliche aus Baden-Württemberg nehmen daran teil.