- Chronischer Schmerz muss nationales Gesundheitsziel werden
- 43 von 100.000 erhalten eine multimodale Schmerztherapie
- Behandlungsqualität verbessern
- Chronischer Schmerz im Landkreis Ravensburg am häufigsten
- Viele Betroffenen, viele ambulante Behandlungsfälle
- Gefahr der Polypharmazie bei Schmerzpatienten
Heidelberg (07.06.2016) In Baden-Württemberg leiden rund 374.000 Menschen an chronischem Schmerz, dessen Ursache unbekannt ist. Das sind 3,49 Prozent der Bevölkerung. Zu diesem Ergebnis kommt der Barmer GEK Arztreport 2016, der heute in Heidelberg vorgestellt wurde.
Damit liefert der Barmer GEK Arztreport 2016 erstmals valide Zahlen auf Basis von Krankenkassendaten. Deutschlandweit wurde bei etwa 3,25 Millionen Menschen eine chronische Schmerzdiagnose ohne direkten Organbezug dokumentiert, was 4,02 Prozent der Bevölkerung entspricht. Zudem zeigen die Zahlen der Krankenkasse, das chronische Schmerzen keinesfalls eine Alterserscheinung sind. Gut zwei Drittel der Patienten sind jünger als 65 Jahre.
Chronischer Schmerz muss nationales Gesundheitsziel werden
Schmerzen signalisieren, dass im Körper etwas nicht stimmt. Ist das Schmerzempfinden gestört, dann können Schutzreflexe ausbleiben und Verletzungen unbemerkt bleiben - mit erhebliche Folgeschäden. Umgekehrt können chronische Schmerzen Bewegungsabläufe, das allgemeine Verhalten und die Lebensqualität erheblich einschränken. "Wir müssen alles tun, damit Schmerzpatienten besser leben können", sagt der Landesgeschäftsführer der Barmer GEK Baden-Württemberg, Winfried Plötze. Dazu zähle auch die Vermeidung von chronischen Schmerzen, "denn als Schmerzpatient wird man nicht geboren, man wird dazu gemacht." Von den ersten Symptomen bis hin zur ersten qualifizierten Schmerzbehandlung vergehen in Baden-Württemberg fast vier Jahre. In dieser Zeit werde viel, aber selten das Richtige getan. "Wenn Patienten mit akuten Schmerzen zum Arzt kommen, ist es das erste Ziel, sie von diesen Schmerzen zu befreien. Sind die Therapiemaßnahmen nicht erfolgreich, muss schon zu diesem frühen Zeitpunkt auch an die psychische und soziale Dimension des Schmerzes gedacht werden. Nur so kann eine Chronifizierung des Schmerzes vermieden werden. Dafür ist vor allem Interdisziplinarität notwendig. Angesichts von Millionen Betroffenen muss die Bekämpfung des chronischen Schmerzes nationales Gesundheitsziel werden."
43 von 100.000 erhalten eine multimodale Schmerztherapie
Chronische Schmerzen sind eine eigenständige Erkrankung, die besonders behandelt werden muss. Eine solche Möglichkeit stellt die multimodale Schmerztherapie dar, eine interdisziplinäre und zeitintensive Behandlung, die nur im Krankenhaus durchgeführt wird. Im Schnitt dauert eine multimodale Schmerztherapie 14 Tage, die Kosten liegen bei rund 4.000 Euro. In Baden-Württemberg erhalten nur 0,043 Prozent der Betroffenen eine multimodale Schmerztherapie. Professor Marcus Schiltenwolf, Leiter der konservativen Orthopädie und Schmerztherapeut der Heidelberger Uniklinik erklärt, "dass nicht jeder, der chronische Schmerzen hat, eine multimodale Schmerztherapie benötigt." Wer multimodal behandelt wird, muss mindestens drei Merkmale wie etwa eine drohende Beeinträchtigung der Lebensqualität, eine fehlgeschlagene unimodale Schmerztherapie und eine gravierende Begleiterkrankung aufweisen.
Behandlungsqualität verbessern
Im Bereich der Schmerztherapie attestiert Schiltenwolf dem deutschen Gesundheitssystem eine Fehlversorgung. Schmerzen haben oft nicht eine, sondern mehrere Ursachen, die sowohl somatischer als auch psychosomatischer Natur sein können. "Die Patienten könnten enorm von einer guten medizinischen Beratung profitieren, die der Ursache des Schmerzes interdisziplinär auf den Grund geht, doch diese Beratung findet in den seltensten Fällen statt", so Schiltenwolf. Zudem appelliert der Mediziner an die Eigenverantwortung der Schmerzpatienten, diese werde bisher zu wenig eingefordert. "Die multimodale Therapie ist kein Allheilmittel, sondern vor allem eine Hilfe zur Selbsthilfe, die viel mit Verhaltensänderung und Selbstmanagement zu tun hat." Die Barmer GEK unterstützt die Bemühungen seitens der Fachgesellschaften, verbindliche Qualitätskriterien für die multimodale Schmerztherapie zu entwickeln. Die Zahl der Krankenhäuser, die eine multimodale Schmerztherapie im Angebot haben, hat sich zwischen den Jahren 2006 und 2014 mehr als verdoppelt, doch bei der Therapie "sei oftmals nicht drin, was drauf steht", so Plötze.
Chronischer Schmerz im Landkreis Ravensburg am häufigsten
In Baden-Württemberg leben die meisten Menschen mit chronischen Schmerzen laut Barmer GEK Arztreport im Landkreis Ravensburg, dort sind über 5 Prozent der Bevölkerung betroffen. In Heidelberg liegt die Quote bei rund 3,6 Prozent, im Rhein-Neckar-Kreis bei 4,9 Prozent. Die wenigsten Menschen mit chronischen Schmerzen weist laut Krankenkassendaten der Landkreis Heidenheim mit gut zwei Prozent aus.
Viele Betroffenen, viele ambulante Behandlungsfälle
Niedergelassene Ärzte mit einer entsprechenden Zusatzqualifikation dürfen chronische Schmerzen ambulant behandeln. Statistisch gesehen kommen auf 100.000 Baden-Württemberger 1,5 niedergelassene Schmerztherapeuten (Bundesdurchschnitt: 1,4). In Baden-Württemberg erhalten rund 1 Prozent der Betroffenen eine ambulante Schmerztherapie. Regional unterscheidet sich die Versorgung deutlich. In Kernstädten werden schmerztherapeutische Leistungen häufiger genutzt und dort, wo die Betroffenenquote hoch ist, ist meist auch die ambulante Behandlungsquote höher. In Heidelberg erhalten 1,75 Prozent der Schmerzpatienten eine ambulante Therapie, im Landkreis Ravensburg mehr als zwei, in Heidenheim dagegen nur 0,15 Prozent der Betroffenen.
Gefahr der Polypharmazie bei Schmerzpatienten
Patienten mit chronischen Schmerzen erhalten Arzneimittel, die typischerweise eine schmerzlindernde Wirkung haben. Aber nicht nur. Teilweise werden ihnen auch Arzneimittel verordnet, um Nebenwirkungen vorzubeugen. Hinzu kommt, dass Schmerzpatienten häufig von mehreren Erkrankungen betroffen sind, die ebenfalls medikamentös behandelt werden müssen, etwa Diabetes mellitus Typ 2 und Bluthochdruck. In der Summe hat das zur Folge, dass Menschen mit chronischen Schmerzen 70 Prozent mehr Arzneimittel verordnet bekommen als gleichaltrige Patienten, zudem erfolgt die Verordnung über einen längeren Zeitraum und in einer höheren Dosierung. Pro Tag erhalten Schmerzpatienten durchschnittlich 4,5 Medikamente und dürften deshalb auch häufiger von polypharmazeutischen Problemen betroffen sein. Plötze: "Insbesondere bei älteren Schmerzpatienten ist mit Wechselwirkungen zu rechnen, was ebenfalls eine interdisziplinäre Versorgung notwendig erscheinen lässt."
Für den Barmer GEK Arztreport 2016 hat das AQUA-Institut in Göttingen die pseudonymisierten Daten von mehr als 8 Millionen Barmer GEK Versicherten aus dem Jahr 2014 ausgewertet. Für die Ermittlung der Häufigkeit von chronischen Schmerzen ohne einen direkten Organbezug wurden die Diagnosen F45.41 ("Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren"), R52.1 ("Chronisch unbeeinflussbarer Schmerz") und R52.2 ("Sonstiger chronischer Schmerz") berücksichtigt.