Stuttgart, 15. Dezember 2021 – Der Contergan-Skandal liegt mehr als 60 Jahre zurück. Aber noch immer erhalten Frauen im gebärfähigen Alter Arzneimittel, die zu Fehlbildungen bei ungeborenen Kindern führen können. Das geht aus dem diesjährigen Barmer-Arzneimittelreport hervor. Diese riskanten Medikamente, sogenannte Teratogene, wurden innerhalb eines Jahres mehr als sieben Prozent der Baden-Württembergerinnen im Alter zwischen 13 und 49 Jahren verordnet. Hochgerechnet sind das mehr als 178.000 Frauen. Von ihnen erhielten mehr als 13.000 ein unzweifelhaft starkes Teratogen. Diese Teratogene, die zum Beispiel bei der Behandlung von Epilepsie angewendet werden, verzehnfachen das Risiko einer Fehlbildung. "Wir verteufeln Teratogene nicht und deren Verordnung ist auch nicht zwangsläufig ein Behandlungsfehler. Was wir aber fordern, ist, dass die Medikation von jungen Frauen grundsätzlich auf kindsschädigende Risiken geprüft wird. Und zwar unabhängig von einer Schwangerschaft. Denn der Schutz des Kindes muss schon vorher beginnen", so der Landesgeschäftsführer der Barmer Baden-Württemberg, Winfried Plötze, bei der Vorstellung des Arzneimittelreports in Stuttgart. Momentan sei diese Kontrolle nicht der Standard. In einer Umfrage unter 1.300 bei der Barmer versicherten Frauen, die im vergangenen Jahr entbunden hatten, gaben 32 Prozent der Frauen mit geplanter und 69 Prozent der Frauen mit ungeplanter Schwangerschaft an, dass ihre Arzneimitteltherapie vorher nicht auf Unbedenklichkeit überprüft worden sei. Ein Medikamenten-Check während der Schwangerschaft komme laut Plötze aber zu spät, um das Kind vor möglichen Missbildungen zu schützen.
Rechtsanspruch auf bundeseinheitlichen Medikationsplan gefordert
Problematisch ist auch, dass die Verordnung von Arzneimitteln nur unzureichend dokumentiert wird. Laut Barmer nehmen 17,7 Prozent der Baden-Württembergerinnen im gebärfähigen Alter mindestens ein Medikament regelmäßig ein. Idealerweise wird eine Arzneimitteltherapie in einem Medikationsplan festgehalten. Er informiert alle behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Doch der Medikationsplan ist häufig Mangelware. In der Umfrage der Krankenkasse gaben 86 Prozent der befragten Frauen an, keinen Medikationsplan zu besitzen. "Arzneimittelverordnungen vor und in der Schwangerschaft sind keine Seltenheit. Etwa, wenn eine chronische Krankheit behandelt wird. Die Informationslücke ist aber ein Risiko. Gynäkologinnen und Gynäkologen können nur adäquat beraten, wenn ihnen die vollständige Medikation der Patientinnen bekannt ist", sagt Dr. med. Ursula Marschall, leitende Medizinerin bei der Barmer. Hinzukomme, dass nicht alle jungen Frauen einen Rechtsanspruch auf den sogenannten bundeseinheitlichen Medikationsplan hätten. Den hätten nur Patientinnen, die dauerhaft mindestens drei Arzneimittel gleichzeitig einnehmen. Ein Fehler, sagt Marschall. "Dabei wird übersehen, dass das Risiko für das ungeborene Kind nicht von der Anzahl, sondern von der Art des verordneten Arzneimittels abhängt." Die Barmer fordere deshalb einen Rechtsanspruch auf den bundeseinheitlichen Medikationsplan für alle junge Frauen, die dauerhaft mindestens ein Medikament einnehmen.
Schwangere setzen Arzneimittel aus Sorge vor Schäden ab
Auch an anderer Stelle gebe es riskante Kommunikationslücken. Vor einer Schwangerschaft seien es vor allem die Hausärzte, die Medikamente verordnen. Sie würden von den Patientinnen aber nur selten über eine geplante Schwangerschaft informiert. Das könne dazu führen, dass Teratogene nicht rechtzeitig abgesetzt oder ersetzt werden, sofern möglich. Auch das spreche laut Barmer dafür, dass bei jungen Frauen grundsätzlich bewertet werden müsse, ob die verordneten Medikamente im Fall einer Schwangerschaft Fehlbildungen verursachen können. "Das ist auch deshalb sinnvoll, weil ein Drittel der Schwangerschaften nicht geplant ist", ergänzt Marschall. Viele Frauen hätten auch Angst davor, ihr Kind durch die Einnahme von Arzneien zu schädigen. Deshalb setzte laut Barmer-Umfrage jede Fünfte ihre Medikamente ab, teilweise ohne ärztliche Rücksprache. Das könne für Mutter und Kind riskant sein. Etwa beim eigenmächtigen Absetzen von Antidepressiva. Auch deshalb sei es wichtig, dass die Ärztinnen und Ärzte die Frauen umfassend über die verordneten Medikamente aufklären. Plötze: "Auch hier zeigt sich, dass wir bei der Arzneimitteltherapie in erster Linie über Informationslücken sprechen, die geschlossen werden müssen. Denn sie sind ein Risiko, das grundsätzlich vermeidbar ist."
Informationen über Arzneimittel und Schwangerschaft
Die Website www.embryotox.de des Embryonaltoxikologischen Instituts der Charité berate laienverständlich zu Fragen der Arzneimitteltherapie. Hier finden Schwangere Informationen zu mehr als 400 Arzneimitteln. Unter www.barmer.de/s000073 stelle die Barmer Informationen zum Thema Arzneimitteleinnahme während der Schwangerschaft zur Verfügung. Etwa zu Medikamenten bei akuten Erkrankungen während der Schwangerschaft oder welche Medikamente zur Behandlung einer chronischen Erkrankung während der Schwangerschaft erlaubt sind.
Barmer-Projekt sollen kindsschädigende Verordnungen reduzieren
Zudem treibe die Barmer Innovationsfondsprojekte an, welche die Sicherheit der Arzneimitteltherapie erhöhen sollen. Das neueste geplante Projekt eRIKA solle etwa dafür sorgen, dass die Ärztin oder der Arzt bereits beim Ausstellen eines Rezeptes Transparenz zur Gesamtmedikation erhalte. Hier arbeite die Barmer neben Ärzteschaft und Apotheken mit der Berliner Charité zusammen. Für Frauen im gebärfähigen Alter würden die Ärztinnen und Ärzte im Rahmen von eRIKA so zum Zeitpunkt der Verordnung automatisch Hinweise auf Arzneimittel erhalten, die in der Frühschwangerschaft problematisch seien. Weiterhin könne eine patientenfokussierte digitale Anwendung bereitgestellt werden, um ergänzend Schwangeren oder Frauen, die eine Schwangerschaft planen, derartige Warnhinweise zu geben.