Stuttgart, 18. November 2020 – "Bei der Behandlung von Patienten sind Informationsdefizite zwischen Arztpraxen und Krankenhäusern ein ebenso vermeidbares wie relevantes Problem, das die Gesundheit der Patienten gefährden kann", fasst der baden-württembergische Landesgeschäftsführer der Barmer, Winfried Plötze, die Erkenntnis des aktuellen Arzneimittelreports der Krankenkasse zusammen. So würden den Kliniken bei der Aufnahme von Patienten nicht immer alle notwendigen Informationen zur Arzneimitteltherapie vorliegen. Das könne vor allem für Personen problematisch sein, die von Polypharmazie betroffen sind. Davon spricht man, wenn Patienten mit mindestens fünf Medikamenten gleichzeitig behandelt werden. Meistens trifft dies auf Ältere und chronisch Kranke zu, doch das sind nicht wenige. Laut Barmer-Arzneimitteilreport nahmen im Jahr 2017 fast 229.000 Baden-Württemberger im Alter ab 65 Jahren am Tag ihrer Krankenhausaufnahme mindestens fünf Medikamente gleichzeitig ein. Plötze: "Es ist wichtig, dass die Ärzte die Medikation kennen, damit Wechsel- und Nebenwirkungen vermieden werden können."
Medikationspläne fehlen oder sind unvollständig
Dass Informationen fehlen, hat mehrere Gründe. Laut einer Umfrage der Barmer unter rund 2.900 Polypharmaziepatienten im Alter ab 65 Jahren, die in einer Klinik behandelt wurden, hatte ein Drittel vom Hausarzt keine Unterlagen zur Vorlage in im Krankenhaus erhalten. 17 Prozent der Befragten verfügten nicht über eine aktuelle Aufstellung ihrer Medikamente, lediglich 29 Prozent legten bei ihrer Krankenhausaufnahme den bundeseinheitlichen Medikationsplan (BMP) vor, der Informationsverluste zwischen den Ärzten verhindern soll. Auf den BMP haben alle Patienten Anspruch, die dauerhaft mindestens drei Arzneimittel einnehmen. Jeder 3. vorgelegte Medikationsplan war unvollständig, wenn die Patienten zuvor von mehreren Ärzten behandelt wurden. Zudem seien nicht alle Befragten in der Lage gewesen, den Klinikärzten von sich aus behandlungsrelevante Auskünfte zu geben. "Dieser Informationsverlust ist ein Beispiel dafür, wie die Trennung des ambulanten und des stationären Sektors die Patientensicherheit gefährdet. Zwischen Kliniken und Praxen verläuft eine unsichtbare Mauer. Von einer sektorenübergreifenden Versorgung, wie sie seit Jahren gefordert wird, sind wir weit entfernt", sagt Plötze. Das wiege umso schwerer, weil die gleichzeitige Behandlung durch Niedergelassene und Klinikärzte besonders sensible Personengruppen betreffe: ältere Menschen, chronisch Kranke und multimorbide Patienten.
Der Fehler liegt im System
Der Grund für den Informationsverlust bei der sektorenübergreifenden Arzneimitteltherapie liegt im System. So ist bisher nicht sichergestellt, dass Fachärzte immer den behandelnden Hausarzt informieren, wenn sie ein Arzneimittel verordnen. Das führt zu unvollständigen Medikationsplänen. Bei der Aufnahme im Krankenhaus ist Zeitmangel ein Problem. "Etwa die Hälfte unserer Patienten wird nicht geplant, sondern als Notfall eingeliefert. Mir liegen keine Unterlagen vor, aus denen ersichtlich wäre, welche Vorerkrankungen die Patienten haben und welche Arzneimittel sie einnehmen. Um das alles zu erfassen, bleiben mir im Schnitt zehn bis 15 Minuten“, sagt Dr. Stefan Reinecke, Ärztlicher Direktor und Chefarzt am Stuttgarter Marienhospital. Hier wäre ein vollständiger BMP hilfreich. Seit 2018 kann dieser auf der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) gespeichert werden. Aber nur, wenn der Patient dies wünscht. "Wünscht der Patient das nicht, dann können uns Ärzten wichtige Informationen vorenthalten werden. An dieser Stelle macht uns auch die mangelhafte Digitalisierung des Gesundheitswesens einen Strich durch die Rechnung. Denn die Kliniken können den Medikationsplan auf der eGK momentan weder auslesen noch pflegen", so Reinecke. Hier soll das Krankenhauszukunftsgesetz Abhilfe schaffen, in dessen Rahmen Bund und Länder den Kliniken bis zu 4,3 Milliarden Euro für moderne Notfallkapazitäten, die Digitalisierung und ihre IT-Sicherheit zur Verfügung stellen.
Digitalisierung nutzen, um die Arzneimitteltherapie sicherer zu machen
Auch bei der Entlassung aus dem Krankenhaus hakt die Informationsweitergabe. 41,5 Prozent der Barmer-Versicherten aus Baden-Württemberg wurde im Krankenhaus ein neuer Wirkstoff verordnet. Hochgerechnet auf die Bevölkerung war das demnach bei mehr als 500.000 baden-württembergischen Männern und Frauen der Fall, davon waren etwa 260.000 älter als 65 Jahre. In der Umfrage der Krankenkasse gaben 30 Prozent der Befragten an, dass ihnen die neue Medikation nicht erklärt wurde. Etwas mehr als ein Drittel hatte in der Klinik keinen aktualisierten Medikationsplan erhalten. Um die Informationsweitergabe zu verbessern, hat die Barmer im Oktober mit zahlreichen Partnern das Innovationsfondsprojekt TOP ("Transsektorale Optimierung der Patientensicherheit") gestartet. Dabei stellt die Kasse den Klinikärzten und Krankenhausapothekern alle behandlungsrelevanten Informationen in Echtzeit zur Verfügung, sofern die Patienten ihr Einverständnis gegeben haben. Dazu gehören Vorerkrankungen und eine Liste aller verordneten Arzneimittel. Den Patienten wird durch Apotheker und Krankenhausarzt die Therapie erklärt und bei der Entlassung wird der Medikationsplan vervollständigt oder erstellt, sofern noch nicht vorhanden. Plötze: "Durch die Nutzung von Krankenkassendaten können Behandlungsfehler vermieden werden. In diesem Projekt nutzen wir die Digitalisierung, um alle Beteiligten zu vernetzen. Das verstehe ich unter sektorenübergreifender Versorgung."