Ambulant vor stationär ist ein wichtiger Leitsatz in der Gesundheitspolitik. Er besagt, dass zuerst alle ambulanten Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden müssen, bevor die Aufnahme in einer Klinik erfolgt. In Baden-Württemberg könnte etwa jeder zehnte Eingriff ambulant statt stationär durchgeführt werden. Zu diesem Ergebnis kommt das Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung (bifg). Die Barmer Landesvertretung appelliert an die Politik, Erkenntnisse wie diese nicht zu ignorieren. Die Daten sollten in die Bedarfsplanung einfließen. Und sie schlägt ein flexibles Vergütungsmodell für ambulante Operationen vor.
Die Entfernung der Weisheitszähne, Meniskusoperationen oder Eingriffe am Auge bei der Behandlung des Grauen Stars. Das sind beispielhafte Operationen, die früher stationär und inzwischen längst ambulant, sprich ohne Übernachtung in einer Klinik vorgenommen werden. Es könnten aber viel mehr sein. Am 1. April hatte das IGES Institut in einem Gutachten Vorschläge gemacht, welche Leistungen in den Katalog für das ambulante Operieren (AOP-Katalog) aufgenommen werden könnten. Zusätzlich zu den 2.879 bereits im AOP-Katalog enthaltenen Leistungen führt das IGES 2.476 weitere ambulantisierbare Leistungen auf. "Dieser enorme Anstieg dürfte vor allem den medizinischen Fortschritt der vergangenen 17 Jahre widerspiegeln, denn der AOP-Katalog wurde seit dem Jahr 2005 nicht mehr überarbeitet", sagt Barmer Landesgeschäftsführer Winfried Plötze. Eingriffe, die perspektivisch ambulant erbracht werden könnten, seien zum Beispiel einfache Leistenbruch- oder Blinddarmoperationen.
In allen Kliniken und Fachabteilung gibt es ein Ambulantisierungspotenzial
Basierend auf dem Gutachten des IGES hat das bifg ermittelt, wie hoch das Ambulantisierungspotenzial ist. Dabei hat es auch die vom IGES aufgeführten Kontextfaktoren berücksichtigt. "Kontextfaktoren sind Umstände, aufgrund derer ein Eingriff stationär vorgenommen wird, obwohl er prinzipiell ambulant möglich wäre", so Plötze. Solche Faktoren könnten zum Beispiel soziale Umstände oder auch das hohe Alter der Patientinnen und Patienten sein. In Baden-Württemberg könnten laut bifg mindestens neun Prozent aller vollstationären Fälle ambulant erbracht werden. Ein etwas höheres Ambulantisierungspotenzial von mindestens elf Prozent und mehr wurde für den Alb-Donau-Kreis, den Ostalbkreis und für die Landkreise Lörrach und Ludwigsburg ermittelt. Die Autoren der Studie weisen zudem darauf hin, dass das tatsächliche Ambulantisierungspotenzial aufgrund des konservativen Berechnungsansatzes noch höher liegen dürfte. Neben einem erwartbar höheren Ambulantisierungspotenzial bei jüngeren im Vergleich zu älteren Patientinnen und Patienten zeigt sich in der Analyse des bifg,
- dass es in allen Regionen Deutschlands ein relevantes Ambulantisierungspotenzial gibt,
- dass unnötige stationäre Behandlungen in allen Fachabteilungen durchgeführt werden, dass es zwischen diesen aber bedeutsame Unterschiede in Bezug auf das Ausmaß des Ambulantisierungspotenzials gibt,
- dass es keinen wesentlichen Unterschied bei einer Betrachtung nach der Trägerschaft (öffentlich, privat, freigemeinnützig) und der Bettengröße der Kliniken gibt. Lediglich in Häusern mit 1.000 oder mehr Betten ist das Ambulantisierungspotenzial leicht unterdurchschnittlich.
Vorteile der Ambulantisierung
Ambulante Operationen haben durchaus Vorteile. Sie senken das Risiko für eine Krankenhausinfektion, sie ersparen den Patientinnen und Patienten einen Klinikaufenthalt und ja, sie sind auch kostengünstiger als vollstationäre Eingriffe. Plötze: "Angesichts eines prognostizierten Defizits der gesetzlichen Krankenversicherungen in Höhe von 17 Milliarden Euro ist das ein Punkt, der erwähnt werden muss. Alleine bei der Barmer schätzen wir das bundesweite Ambulantisierungsvolumen auf etwa 440 Millionen Euro jährlich." Auch die Leistungserbringer könnten profitieren, wenn der Grundsatz "ambulant vor stationär" stärker als bisher gelebt werden würde. So könnten sich Kliniken, Arztpraxen und Medizinische Versorgungszentren ganz gezielt auf ambulante Operationen ausrichten. Zudem könnten Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal entlastet werden, wenn in den Kliniken wirklich nur noch Patientinnen und Patienten lägen, die dort zwingend hingehörten.
Die Politik muss klare Vorgaben machen
Winfried Plötze fordert von der Landespolitik, die Erkenntnisse des bifg in die Bedarfsplanung einfließen zu lassen. Und er fordert klare Vorgaben dahingehend, welche Eingriffe in Zukunft wo durchgeführt werden sollen. "Wir müssen die Ambulantisierung gemeinsam vorantreiben. Was wir nicht brauchen, ist eine Verstrickung in Diskussionen über mögliche Komplikationen bei einzelnen Diagnosen und eine Gefährdung der Patientensicherheit. Wir führen heute auch schon ambulante Eingriffe durch, für die man früher im Krankenhaus aufgenommen wurde. Das ist der beste Beweis dafür, dass es funktioniert."
Barmer schlägt flexibles Vergütungsmodell vor
Auch im Koalitionsvertrag der Bundesregierung wird "die Ambulantisierung bislang unnötig stationär erbrachter Leistungen" erwähnt. Um diese zu fördern, schlägt die Ampel-Koalition eine Vergütung durch sogenannte Hybrid-DRG vor. "Der Begriff Hybrid-DRG ist aber gar nicht eindeutig definiert. Und er suggeriert einen Mixpreis aus ambulanter und stationärer Vergütung", sagt Winfried Plötze. Notwendig sei aber eine differenzierte Vergütung, die sich an den tatsächlichen Kosten des vertragsärztlichen Bereichs auf der einen Seite und des Krankenhausbereichs auf der anderen Seite orientiere. Die Barmer schlage deshalb ein modulares Vergütungssystem vor. "Es besteht aus einer Basisvergütung für die jeweiligen medizinischen Leistungen, die durch weitere Vergütungsbestandteile ergänzt wird. Dies sind zum Beispiel Zuschläge für unterschiedliche Schweregrade der Behandlung oder eine kurzstationäre Beobachtung von Patientinnen und Patienten." Ein weiteres Modul decke die Vorhaltekosten ab. Dieses sei wichtig für den Aufbau von neuen, sektorenübergreifenden Versorgungsstrukturen wie regionalen Versorgungszentren. "Eine konsequente Ambulantisierung bislang stationär erbrachter Leistungen ist nicht nur aufgrund des medizinischen und technischen Fortschritts möglich. Sie ist auch vor dem Hintergrund des Mangels an qualifiziertem Personal und begrenzter finanzieller Mittel geboten. Denn die fetten Jahre im Gesundheitswesen sind vorbei."